Cellist Jean-Guihen Queyras

Wie schwer, ein Lieblingsstück auszusuchen! Man ist ja gerade deswegen Interpret, weil man als solch ein Privileg hat, die Welten verschiedenster Komponisten zu erleben, und unser Publikum auf diese „Camäleon-Reise“ und in „wandelnde Identitäten“ mitzunehmen. Das Lieblingsstück ist also „par définition“ das Stück,das man gerade aufführt und erlebt. Doch manchmal erlebt man etwas ganz persönliches mit einem Werk. Am Ende meines Studiums in NY hatte ich keine leichte Zeit. Eine Zeit des Zweifelns, mit grundsätzlichen Fragen und Zweifel in mir – auch über meine Berufswahl: „Will ich das wirklich, schaffe ich das alles?“In dieser schwierigen Phase lernte ich das 3. Rasumovsky-Streichquartett von Beethoven op. 59,3 kennen, wobei es insbesondere der langsame Satz war, der mich besonders berührte. Ich habe das Andante wiederholt stundenlang gehört. Es fasziniert mich noch immer, wie jede einzelne Note ganz direkt die Seele berührt, ganz so, als ob sie sagen wollte: „alles wird besser.“ Diese Musik hat mich einfach getröstet und weitergetragen. Später habe ich versucht zu analysieren, woher genau diese Musik diese heilende Kraft holt. Wie denn können Klänge eine solch persönliche Gestalt annehmen? Gerade Beethoven ist ja ein Komponist, dessen Musik man eher mit Adjektiven wie „universell“ und „absolut“ umschreibt. Ich denke aber, hier kann man von einem fast „schubertschem“ Beethoven sprechen, der seine ganze Stärke riskiert und einfach „loslässt“. Beethoven selbst sagte über das Stück, dass er eine Nacht unter dem Sternenhimmel lag und ihm in dieser Stimmung das Thema eingefallen sei. Dieses Schwebende, diese Verbindung zum Kosmos ist direkt zu spüren. Die Töne tauchen allmählich auf, einzeln, einsam, doch sie finden einen Weg zueinander und bilden peu à peu eine E-Dur Welt, weit entfernt von C-Dur, der Haupttonart des Quartetts. Beethoven schafft es hier für mich, das Größte mit dem Kleinsten, das Weltall mit dem Inneren des Menschen in Verbindung zu bringen. Das zweite Werk das für mich eine ganz besondere Rolle einnimmt, sind Bachs Solosuiten, die ich vor kurzem eingespielt habe. Mich fasziniert besonders daran wie Bach mit den anscheinenden Schwächen des Cellos als Soloinstrument umgeht. Er nützt die Grenzen dieses melodischen Instrumentes als kompositorisches Werkzeug. Er stellt die Harmonie nicht vertikal dar, sondern horizontal, lässt sich Zeit und überrascht uns dadurch ständig. Er verschiebt Schlüsseltöne und genießt die daraus entstehende Doppeldeutigkeit. Diese in große Linien und Bögen aufgefächerte Harmonie gibt dem Interpret unheimlich viel Spiel-Raum. Deshalb klingen die Suiten auch bei jedem Cellisten sehr individuell und persönlich. Diesen Raum, den Bach hier gibt, muss der Interpret auch wirklich auskosten, damit der Zuhörer „mitgehen“ kann. Es ist ein ständiges Balanceakt zwischen dem eigenen Empfinden und dem was Bach geschrieben hat. Die Suiten sind für mich ein Musterbeispiel für Bachs Glaube: Sparsamkeit wird zur Tugend; je weniger, desto besser; Aus diesem wenigen entsteht dann ein Meisterwerk; Dank jeder Hürde, die man überspringen muss, kommt man weiter. Der Glaube und
das Schaffen können zusammen Berge versetzen.

harmonia mundi
Veröffentlicht am 27.04.2012
„J.S. Bach: Complete Cello Suites“, released in October 2007
„Suite No. 4 in E Flat Major BWV 1010.: II. Allemande“ von Jean-Guihen Queyras (Google Play • iTunes)
Neugier und Vielfalt prägen das künstlerische Wirken von Jean-Guihen Queyras. Auf der Bühne und bei Aufnahmen erlebt man einen Künstler, der sich mit ganzer Leidenschaft der Musik widmet, sich dabei aber vollkommen unprätentiös und demütig den Werken gegenüber verhält, um das Wesen der Musik unverfälscht und klar wiederzugeben. Wenn die drei Komponenten – die innere Motivation von Komponisten, Interpret und Publikum – auf derselben Wellenlänge liegen, entsteht ein gelungenes Konzert. Diese Ethik der Interpretation lernte Jean-Guihen Queyras bei Pierre Boulez, mit dem ihn eine lange Zusammenarbeit verband. Mit diesem Ansatz geht Jean-Guihen Queyras in jede Aufführung, stets mit makelloser Technik und klarem, verbindlichem Ton, um sich ganz der Musik hinzugeben.

So nimmt er sich mit gleicher Intensität sowohl Alter Musik – wie z.B. mit dem Freiburger Barockorchester, der Akademie für Alte Musik Berlin und dem Concerto Köln – als auch zeitgenössischer Werke an. U.a. hat er Kompositionen von Ivan Fedele, Gilbert Amy, Bruno Mantovani, Michael Jarrell, Johannes-Maria Staud und Thomas Larcher zur Uraufführung gebracht. Im November 2014 spielte er das Cellokonzert von Peter Eötvös anlässich dessen 70. Geburtstags unter der Leitung des Komponisten ein.

Jean-Guihen Queyras ist bis heute aktives Gründungsmitglied des Arcanto Quartetts; mit Isabelle Faust und Alexander Melnikov bildet er ein festes Trio. Überdies sind Alexander Melnikov und Alexandre Tharaud seine Klavierpartner. Darüberhinaus erarbeitete er zusammen mit den Zarb-Spezialitisten Bijan und Keyvan Chemirani ein mediterranes Programm.

Diese Vielfältigkeit hat viele Konzerthäuser, Festivals und Orchester dazu bewegt, Jean-Guihen Queyras als Artist-in-Residence einzuladen, wie das Concertgebouw Amsterdam, Festival d’Aix-en-Provence, Vredenburg Utrecht, De Bijloke Gent und Wigmore Hall London.

Jean-Guihen Queyras ist regelmäßig zu Gast bei renommierten Orchestern wie dem Philadelphia Orchestra, Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Philharmonia Orchestra, Orchestre de Paris, NHK Symphony sowie am Leipziger Gewandhaus und an der Tonhalle Zürich. Er arbeitet mit Dirigenten wie Iván Fischer, Philippe Herreweghe, Yannick Nézet-Séguin, Jiři Bělohlávek, Oliver Knussen und Sir Roger Norrington.

Die Diskographie von Jean-Guihen Queyras ist beeindruckend: Seine Aufnahmen der Cellokonzerte von Edward Elgar, Antonín Dvořák, Philippe Schoeller und Gilbert Amy wurden von der Fachkritik begeistert aufgenommen. Im Rahmen eines Schumann-Projektes sind 3 Alben entstanden, die u.a. das Cellokonzert mit dem Freiburger Barrockorchester unter der Leitung von Pablo Heras-Casado sowie sämtliche Klaviertrios, die Jean-Guihen zusammen mit Isabelle Faust und Alexander Melnikov eingespielt hat, beinhalten. Im August 2016 erschien sein neuestes Album mit dem Titel „THRACE – Sunday Morning Sessions“. Unter Mitwirkung der Chemirani Brüder und Sokratis Sinopoulos (Lyra) kreuzen sich zeitgenösisische Werke, Improvisationen und traditionelle Musik des Mittelmeerraums. Jean-Guihen Queyras nimmt exklusiv für Harmonia Mundi auf.

Zu den Höhepunkten in der Saison 2017/18 gehören u.a. eine Japan-Tour mit dem Czech Philharmonic Orchestra, ein gemeinsames Projekt mit Anne Teresa de Keersmaeker sowie Konzerte mit dem Orchestre Métropolitain, der Akademie für Alte Musik, dem Mahler Chamber Orchestra und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks.

Jean-Guihen Queyras ist Professor an der Musikhochschule Freiburg und künstlerischer Leiter des Festivals „Rencontres Musicales de Haute-Provence“ in Forcalquier. Er spielt ein Cello von Gioffredo Cappa von 1696, das ihm die Mécénat Musical Société Générale zur Verfügung stellt.

Foto: Pressefoto des Künstlers