Im Schmelztiegel der Kulturen

Weltkulturerbe, Staatskultur, Kulturlandschaft, Multikulti, Kulturelle Vielfalt, Leitkultur, Willkommenskultur, Kulturfolger, Kulturflüchter, Kulturschock, Kulturclash, Kampf der Kulturen; normativer, totalitätsorientierter, differenztheoretischer oder wissensorientierter Kulturbegriff – ein Schlagwort jagt das andere. Kultur in aller munde, doch jeder versteht etwas anderes darunter. Die Definition des Begriffs «Kultur» ist ungeheuer schwer fassbar und nie eindeutig, kommt es doch auf Standpunkt, Blickwinkel, Sichtweise und Intention an.
Auf den folgenden «kleinsten» gemeinsamen Nenner kann man sich eventuell einigen: Kultur bezeichnet im weitesten Sinn alles, was der Mensch selbst gestaltend hervorbringt. Kultur ist die Reaktion des Menschen in und gegenüber seiner Umwelt und dient in erster Linie dem elementaren Zweck des Überlebens.

Diese Definition von Kultur greift aber selbstverständlich viel zu kurz und übergeht den sinngebenden Charakter menschlicher Kulturaktivität. Denn wenn sich der Mensch auf sich selbst oder auf seine Umwelt bezieht, so versucht er im Kulturprozess dem Zufälligen und Ungeordneten Struktur und Bedeutung zu verleihen, es wiedererkennbar, symbolisch kommunizierbar oder nutzbar zu machen, ihm also eine Form zu geben. Vor allem Symbole, wie beispielsweise Worte, machen die Dinge begreifbarer, indem sie diese unter bestimmten Gesichtspunkten darstellen: Natur kann beispielsweise durch mathematische Symbole veranschaulicht oder durch dichterische Worte besungen oder tänzerisch erfasst werden, der Mensch kann sie malen, in Stein hauen oder im Text beschreiben. Einzelne Dinge erscheinen unter religiösen, wissenschaftlichen, weltanschaulichen, ästhetischen, zweckrationalen oder politischen Gesichtspunkten, werden also stets in einen größeren beutungsstiftenden Gesamtzusammenhang eingebunden. Wir selbst sind in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt.
Sollen neue Ereignisse kulturell verarbeitet werden, so geschieht dies durch Heranziehen tradierter Sinn- und Formverhältnisse, Denkweisen und Praktiken, die aber ihrerseits nicht notwendigerweise für alle menschlichen Kulturen gelten. Kulturentwicklung ist unglaublich heterogen, kann weder für alle menschlichen Lebensgemeinschaften gleich verlaufend nachgezeichnet noch vorausgesagt werden.
Insgesamt unterstreicht gerade die Vielfalt der Kulturbegriffe die Einsicht, dass «Kultur» als ein diskursives Konstrukt begriffen werden muss, das auf unterschiedlichste Weise definiert und erforscht werden kann.
Das ist ein nicht unerhebliches Problem und es kommt noch schlimmer:
Kultur ist schon in sich selbst widersprüchlich: Eine ihrer wichtigsten Funktionen besteht darin, dass sie nach innen integrativ, nach außen hierarchisch und ausgrenzend funktioniert. Einerseits trägt Kultur zur individuellen und kollektiven Identitätsbildung bei; andererseits gehen die für Kulturen kennzeichnenden Standardisierungen des Denkens, Fühlens und Handelns oft mit einer Ausgrenzung des Anderen einher. Im Jetzt und Heute, in dem unsere Welt u. a. durch die Globalisierung kleiner geworden ist, ist Abgrenzung bedeutend schwieriger, wenn nicht gar unmöglich geworden. Dennoch – schon immer gab es kulturelle Errungenschaften, die für fremde Einflüsse besonders empfänglich waren: die «Schönen Künste» – z. B.Kunst, Musik und Literatur. Sie lechzen nahezu nach dem Input von Außen, um zu transformieren und zu integrieren.
Was wäre die Römische Kultur ohne die Hellenistische, die Deutsche ohne die italienische Renaissance oder die flämische Malerei? Wie hätten die Pariser Salons ohne die vielen Migranten ausgesehen? Nicht auszudenken …
Während Kultur – im allgemeinsten Sinn des Wortes – oft der Ort ist, in dem der Mensch, mal ganz bewusst, mal eher unbewusst, beheimatet ist und zwar in Abgrenzung zum Anderen, vermag Kultur als Kunst, Musik oder Literatur diese Begrenzung zu sprengen. Diese Kulturformen besitzen die Fähigkeit zur Abstraktion und Fiktion – die Möglichkeit Wirklichkeiten auf anderen Ebene «durchzuspielen», Utopien und Visionen zu entwickeln. Hier wird Kultur zum neutralen Ort – ideal für Austausch und Begegnung. Verständnis entsteht im gemeinsamen Erleben und im Kommunizieren, Toleranz und Akzeptanz durch Wissenstransfer. Im Aufzeigen von Gemeinsamkeiten und auch den Unterschieden ist eine Annäherung leichter möglich Gleiches gilt auch für die Selbsterkenntnis und das Selbstverständnis: Denn nur wer sich selbst kennt, kann seine Kultur auch anderen vermitteln. Künstlerische Übersetzungen regen zum Nachdenken an und neue kulturelle Räume, auch für das Fremde, können sich öffnen.
Interessant in diesem Zusammenhang ist übrigens, dass auch von offizieller, politischer Seite zunehmend Kulturprojekte für und in Flüchtlingseinrichtungen angestoßen werden.
Wie kreativ und mutig die Kulturschaffenden bereits in diese Richtung vorausgeeilt sind, zeigen zahlreiche anstehende Veranstaltungen …

Natürlich sind noch viele Fragen offen Wie wird sich unsere Kulturlandschaft in den nächsten Jahren verändern? Werden wir miteinander eine Kultur oder viele verschiedene nebeneinander haben? Welche Gruppierungen wird es geben? Welche Ästhetik und welche Regeln werden gelten? Was geschieht mit Traditionen und Werten? Welcher Geist wird der Kultur zugrunde liegen?
Wirklich sagen, kann das niemand, doch in jedem Fall ist Kultur – auch ganz allgemein betrachtet – immer im Fluss. Sie will immer weiter, Veränderung ist Programm, Stillstand undenkbar!
Autoren: Susanne Heeber (SH)/ Claudia Fenkart-N`jie (CF)
Fotos: Fotolia