Abenteuer Neue Musik

Musikwissenschaftler datieren die Geburt der Neuen Musik auf den Beginn des 20 Jahrhunderts. In dieser Zeit sind eine Reihe von Schlüsselwerken entstanden: Debussys Pelléas et Mélisande (1902), Schönbergs Erwartung (1909) und Strawinskys Sacre du Printemps (1913). Arnold Schönberg sagte einmal, er habe den Schritt aus der Tonalität heraus im Winter 1908/09 „gewagt“. Doch warum nennen wir diese Musik heute überhaupt „Neu“ und dazu noch mit großem N? Weil sie sich aus der Musiktradition der Klassischen Musik heraus entwickelte, sich dann aber schrittweise ihrer bis dahin gültigen Kompositionsgrundlagen und damit auch der Tonalität und bis dahin gängigen Harmonielehre entledigte. Bis heute fordert sie von ihrem Publikum viel, vor allem aber sich von liebgewonnenen Hörgewohnheiten zu verabschieden. Christine Fischer ist Intendantin von Musik der Jahrhunderte Stuttgart, einer der wichtigsten Institutionen für Neue Musik in Baden-Württemberg und sie ist Managerin der Neuen Vocalsolisten. Gemeinsam mit Björn Gottstein, dem Redakteur für Neue Musik beim SWR Stuttgart verantwortet sie die künstlerische Leitung des Festivals ECLAT. Das Stuttgarter Festival avancierte seit seiner Gründung im Jahr 1980 schnell zu einer der experimentierfreudigsten Plattformen für Neue Musik in Deutschland. Ziel von ECLAT ist es, innovative Strömungen der musikalischen Gegenwart darzustellen und sie in Verbindung mit den bedeutenden Kompositionen des 20. und 21. Jahrhunderts zu setzen. So ist ECLAT auch ein wichtiges Forum für die Förderung und Darstellung der jungen Komponisten-Generation. Jedes Jahr bringen renommierte Musiker aus aller Welt zahlreiche Werke zur Uraufführung.

Wir trafen uns mit Christine Fischer und Björn Gottstein zum kreativen Gesprächsaustausch im Theaterhaus Stuttgart, wo auch das Büro von Musik
der Jahrhunderte und von ECLAT beheimatet ist.

BG Der SWR und das Festival ECLAT sind  zwei der wichtigsten Institutionen in Deutschland, in denen die Neue Musik ihren festen Platz hat. Dadurch werden Dinge möglich, die sonst nicht realisierbar wären. Was mein Vorgänger Hans-Peter Jahn und Christine Fischer für
die Neue Musik hier in Stuttgart aufgebaut haben, ist einfach fantastisch – nicht nur, was die Programme und die Initiativen angeht, sondern auch im Hinblick auf die Akzeptanz, die sie mittlerweile im hiesigen Konzertleben genießt, was auch an den aktuelle Publikumszahlenabzulesen ist. Der vielleicht wichtigste Unterschied zwischen meinem Vorgänger und mir, ist die Generationszugehörigkeit: Hans-Peter Jahn hat die Neue Musik in einer Zeit etabliert, in der sie noch unter einem starken Legitimationsdruck stand. Dies hieß, sie immer wieder gegen Ressentiments im Musikleben der 1970er und 1980er Jahre zu verteidigen. Ich dagegen habe das Glück, in eine Zeit hineingeboren zu sein, in der ich nicht mehr das Gefühl habe, mich für Neue Musik rechtfertigen zu müssen. Das ermöglicht uns mehr Unbefangenheit. Meine Generation ist mit Popmusik aufgewachsen, wir sind es gewohnt, Musik als offene Plattform zu sehen, in der alles möglich ist. Das gilt auch für die jungen Komponisten, deren Tonfall und Selbstverständnis sich ebenso gewandelt hat. Natürlich wird die Neue Musik niemals zum Mainstream, dafür besitzt sie zu viel Visionäres und lotet Grenzen aus. Das ist für uns, die Initiatoren, aber auch für die Komponisten eine echte Herausforderung, denn es geht ja immer darum, genau diese schöpferischen Impulse dann in die Welt zu senden.

Zusammen mit Musiker und Veranstaltern aus der Region Stuttgart gründete Musik der Jahrhunderte im Jahr 2007 das Netzwerk Süd im Rahmen von Netzwerk Neue Musik, einem Projekt der Kulturstiftung des Bundes, das bis zum Jahr 2011 Vermittlungsprojekte Neuer Musik in Deutschland umfangreich förderte. Wie sieht Ihre Bilanz dazu aus? Wie wichtig ist die Vermittlungsarbeit für Neue Musik?
CF
Vermittlungsarbeit ist enorm wichtig! Hier in Stuttgart hat dies ja vor allem Helmuth Rilling mit der Bachakademie etabliert.
Es ist aber auch für Musik der Jahrhunderte ein wichtiger Teil der Arbeit. Einen Schwerpunkt sehen wir dabei in der Zusammenarbeit mit Bildungs- und Ausbildungseinrichtungen, aber auch in partizipativen Projekten wie beim Festival „Zukunftsmusik“, das wir 2010 zusammen mit der Kulturregion Stuttgart in zwölf Städten der Region veranstaltet haben. Eine Schwierigkeit sehe ich darin, dass die Bildungseinrichtungen – vor allem die Schulen – mit einer ungeheuren Fülle von Angeboten seitens der Kulturveranstalter konfrontiert sind. Das müsste man noch besser koordinieren, denn speziell die Ganztagseinrichtungen haben nahezu keinen zeitlichen Spielraum mehr, um musikalische Projekte mit Jugendlichen sinnvoll umzusetzen. Ein anderes wichtiges Ziel ist für uns, mit Neuer Musik auch Menschen zu erreichen, die nicht zum typischen Publikum von Klassischen Konzerten und Oper gehören. Interessanterweise stellen wir gerade bei jenen, die eher aus der bildenden Kunst, der Literatur, dem Jazz oder gar der Popmusik kommen, eine größere Offenheit und Unvoreingenommenheit fest, weniger feste Erwartungshaltungen und Vorurteile.
Zeitgenössische Kunst erfreut sich größter Popularität, obwohl auch sie oft schwer zugänglich ist, ebenso das zeitgenössische Theater. Warum glauben Sie ist das bei der Neuen Musik anders?
BG
Vor allem der Kunst ist es meiner Meinung nach gelungen, trotz oder gerade wegen ihrer radikalen Brüche und Positionen eine breite Öffentlichkeit zu erreichen, obwohl man nicht vergessen darf, dass es auch hier unglaublich viele Künstler gibt, die nur
einen ganz kleinen Kreis um sich herum haben. Gleiches gilt für die Literaturszene. Auch da gibt es die großen und international bekannten Autoren, aber ebenso eine riesige Szene von Literaten, die ihre Werke in Kleinstauflagen veröffentlichen. Ich denke, vor allem in den 60er und 70er Jahre ist einfach der Popmusik besser gelungen, den Zeitgeist und das Lebensgefühl einer ganzen Generation aufzufangen, während die Neue Musik sich innerhalb ihrer ganz eigenen Ästhetik weiterentwickelte. Wir sprachen vorher von Vermittlungsarbeit und wie wichtig sie ist. Der Zugang zu Neuer Musik ist ein anderer, aber immer möglich, wenn ich die richtigen Zugänge zu ihr bekomme. Das bedeutet aber nicht, dass ich beispielsweise die Zwölftonreihe oder Atonalität verstanden haben muss, da geht es oft einfach darum, Schwellenängste abzubauen.
CF Auch ich stelle fest, dass Neue Musik heute eine große Öffentlichkeit erreicht, größer übrigens auch als der Kunstfilm. Dennoch ist klar, dass das Publikum sich auf Neue Musik anders einlassen muss als auf Klassische Konzerte. Viele Menschen verorten sich auch über die Musik in einem bestimmten Umfeld oder Milieu. Es gibt damit einen funktionalen Kontext von Musik, der etwas mit Zugehörigkeit und Heimat zu tun hat. Wer sich zuhause eine CD auflegt, das Radio anschaltet oder ins Konzert geht, der hat meist eine ganz bestimmte Erwartungshaltung. Ein Konzert mit Neuer Musik kann aber so eine Erwartung z.B. an Emotionalität nicht erfüllen und wird dann als fremd und oft gar störend empfunden. Dabei ist es gerade dieses irritierende Moment, was bei der Kunstrezeption
so wichtig ist. In der bildenden Kunst ist die Irritation völlig selbstverständlich oder sogar erwartet. Die Musik hat in den Künsten eine Sonderposition, an sie wird ein hoher emotionaler Anspruch gestellt. Musik soll trösten, auffangen, anregen oder ablenken, oder sie soll etwas bebildern. Das ist dem unbefangenen Hörerlebnis im Weg. Hinzu kommt, dass das Musikhören eine vorbestimmte Zeit einfordert: Während ich beim Museumsgang selbst bestimme, wie lange ich ein Kunstwerk betrachte, kann ich mich der Dynamik einer Komposition im Konzertsaal nicht verschließen. Wir laden die Menschen ein zu einem „Hör-Abenteuer“, zur Entdeckung neuer Welten. In Einführungen ermutige ich dazu, den vertrauten Musikbegriff samt Erwartungshaltung und Gefühlswelt wegzulegen, auf Distanz zu gehen zu dem musikalischen Kunstwerk – eine Distanz, die das „Betrachten“ und Nachvollziehen eher ermöglicht. Werkeinführungen können das enorm unterstützen. Ich glaube, Neue Musik wird vor allem dann wirklich erleb- und verstehbar, wenn man sich einfach in einen „betrachtenden Modus“ und auf eine andere Ebene von Reflektion begibt. Dann kann man darin wirklich unglaublich viel Spannendes für sich entdecken! Auch für unerprobte Hörer kann sich schon bei einem Konzertabend durch diese Art der Wahrnehmung sehr viel erschließen. Davon zeugen übrigens auch die ausführlichen Kommentare und Emails, die wir von Menschen bekommen, die entweder unsere Konzerte oder auch andere Veranstaltungen von Neuer Musik besucht haben. Neue Musik erfährt eine zunehmende Popularität! Nehmen Sie einen Komponisten wie Helmut Lachenmann, dessen Werke in Konzertsälen wie der New Yorker Carnegie Hall gespielt und dessen Oper bereits an mehreren renommierten Theatern aufgeführt wurden und der mit den Berliner Philharmonikern zusammenarbeitet. Und gerade er gehört zu jenen, die sowohl Publikum als auch Orchestermusiker selbst in den 70er Jahren extrem irritiert hat. Er ist heute immer noch erstaunt über seinen Erfolg. Oder nehmen wir die Donaueschinger Musiktage, wo man bereits Wochen vor Festivalbeginn für manche Konzerte keine Karten bekommt. Nicht zuletzt ist ECLAT selbst ein wunderbares Beispiel für die große Akzeptanz Neuer Musik.
Sie sind beide viel auf Reisen: Gibt es Unterschiede zwischen Deutschland und anderen Ländern?
CF
In Italien und Spanien ist die Neue Musik kaum noch präsent. Es gibt so wenig an Förderung, so dass viele, die in Rom oder Mailand oder an spanischen Unis Komposition studieren, später ihr Land verlassen. In Frankreich gibt es ein großes Förderspektrum, das zum Teil auch länderübergreifende Kooperationen unterstützt. Frankreich investiert ungeheuer viel, um seine Komponisten und Ensembles Neuer Musik zu fördern. Pierre Boulez war und ist dabei einer der führenden Initiatoren und mit ihm eine Reihe von weitsichtigen Politikern. Aber auch Baden-Württemberg gehört zu jenen Bundesländern, die sehr viel für die zeitgenössische Kunst unternommen haben, zum Beispiel durch die Gründung des ZKM und der Akademie Schloss Solitude. Dennoch mache ich mir um die Nachwuchsförderung in unserem Bereich große Sorgen. Wir brauchen einen Nährboden im Land, eine Basis für künstlerische Kreativität und Auseinandersetzung und Risikobereitschaft, um offene und experimentelle Ansätze zu unterstützen. Für die Neue Musik erhoffe ich mir hier eine größere Aufmerksamkeit.. Und vor allem hoffe ich, dass wir bald den Fonds für Kompositionsaufträge, der leider Mitte der 90er Jahre aufgrund von Einsparungen eingestellt wurde, hier im Land wieder beleben können.
Wir danken Ihnen für das Gespräch!


Mehr zu Musik der Jahrhunderte und zum Festival ECLAT www.mdjstuttgart.de

Video Eclat Festival 2017 Stuttgart, Germany

Jagoda Szmytka: “DIY or DIE” – vaudeville in 5 parts with 5 real-life satellites
Jagoda Szmytka – Gesamtkunstwerk
(direction, text, composition, set, staging)

Fotos: Martin Sigmund / Noten-Illu: fotolia