„Kultur – die wichtigste Sache der Welt“

arsmondo: Sie haben in Wien und Berlin studiert – zwei ganz unterschiedliche Weltstädte – was haben Sie für ihr eigenes
Kunstverständnis und ihren Zugang zur Kunst aus dieser Zeit
mitgenommen?

In Wien habe ich in den 90er-Jahren Literatur- und Theaterwissenschaften studiert. Das waren 2 tolle Jahre. Das Institut lag direkt an der Hofburg und neben der berühmten Lipizzaner-Reitschule. In dieser Zeit habe ich eine ganze Reihe von Schauspielern kennengelernt und mit viel Spaß in einer Theatersportgruppe improvisiert. Schauspiel wäre ein Traum gewesen, aber mein Talent leider nur recht überschaubar! Dafür wurde ich dann Dauergast im Burgtheater. Damals gab es noch Karten für ein paar Schilling, und so konnte ich selbst als klamme Studentin die ganzen tollen Inszenierungen sehen. Ich habe Wien als eine Stadt erlebt, in der man überall über das Theater sprach – jeder Taxifahrer kannte die neuesten Stücke. Das gehörte einfach zum Alltag.

Sendung Kunscht! – Moderatorin Ariane Binder Foto: SWR

arsmondo: Ja, das habe ich bei meinen Besuchen in Wien auch oft so empfunden. Gefallen haben mir auch die Gegensätze: auf der einen Seite die Traditionen, die Geschichte, der alte Habsburger Glanz und auf der anderen Seite die moderne und mutige Szene. Die Kulturszene in Wien war ja von jeher spannend und heterogen – man denke nur an die Zeit zu Beginn des letzten Jahrhunderts mit Sigmund Freud, Artur Schnitzler oder Egon Schiele und Arnold Schönberg…
Ja, die Stadt traut sich was und hat gleichzeitig abgründigen Charme. Wie die Wiener selbst! Meine Abschlussarbeit wollte ich über Thomas Bernhard schreiben. Zu meinem Glück durfte der Germanist Wendelin Schmidt-Dengler damals gerade Bernhards Nachlass öffnen, und auch sonst konnte man wunderbar auf den Spuren von Wiens Lieblings-Grantler wandeln! Ich war auch oft auf der Baumgartner Höhe – dem Schauplatz seiner Erzählung “Wittgensteins Neffe“. Das Areal ist ja bis heute ein beliebtes Ausflugsziel der Wiener. Ein ambivalenter Ort. Denn dort oben liegt einerseits die berühmt-berüchtigte Nervenheilanstalt – mit dunkler Vergangenheit vor allem in der NS-Zeit. Auf der anderen ist da diese Schönheit von Otto Wagners Architektur – es gibt etwa eine Oper und eine Kirche, in der noch immer spannende Konzerte und Kunstprojekte stattfinden.

arsmondo: Und was haben Sie aus Berlin mitgenommen?
Berlin war auch prägend – und aufregend! Ab 1995 studierte ich dort Kulturwissenschaften bei Professoren wie Thomas Macho, Friedrich Kittler und Christina von Braun. Das Institut lag in der Sophienstraße in Mitte, nur einen Steinwurf von der Volksbühne entfernt, wo Christoph Schlingensief gerade mit seinen großartigen Happenings bekannt wurde. Am liebsten hat er sich an Helmut Kohl abgearbeitet oder Rudi Dutschke wiederbelebt. Und im Prater schlitterte man vielleicht in die ersten Theaterarbeiten von Rene Pollesch. In Berlin herrschte noch diese Aufbruchsstimmung nach der Wende – es gab noch all diese Freiräume. Ich habe in Ostberlin, am Helmholtz-Platz gewohnt. Viele Künstler lebten in der Nachbarschaft, Hausbesetzer, Menschen ohne Papiere. Manche machten eine Bar in irgendeinem Hinterhof auf und stellten dort Kunst aus. Und Techno war natürlich der Soundtrack zu allem.

arsmondo: Städte können also kulturell
sehr prägend sein…
Ja, ich glaube schon, dass man durch Kunst einen guten Zugang zu einer Stadt findet. Wo gehen wir als erstes hin, wenn wir neu in eine Stadt kommen und niemanden kennen? Ins Museum oder ins Theater – dort trifft man wildfremde Menschen und man hat doch sofort ein Thema, kommt sofort ins Gespräch.

arsmondo: Sie haben in ihrer bisherigen Laufbahn auch politische Formate entwickelt. Für die „Kulturzeit“ entwickelte sie unter anderem Sonderformate aus Istanbul, zu den Präsidentschaftswahlen in Moskau oder vom G8-Gipfel in Heiligendamm – wie blickt eine Kulturwissenschaftlerin auf diese Dinge? Wird auch die Kultur wieder politischer? Sollte sie das überhaupt?
Mein Eindruck ist, dass die Kultur beginnt, wieder stärker politisch Haltung zu zeigen. Wobei ich nicht finde, dass sie das generell muss. Ich schätze genauso Künstler wie Sophie Calle – oder auch James Turrell mit seinen spirituellen Experimenten. Turell braucht sich nicht zu Donald Trump äußern. Dennoch lehrt er uns, Dinge anders zu sehen und zu denken. Kultur muss nicht politisch sein, aber sie schafft etwas, was der Politik oft nicht gelingt: Sie zeigt Träume, Utopien auf, kann neue Ideen für ein gesellschaftliches Miteinander erproben. Nehmen Sie zum Beispiel den Regisseur Milo Rau. Er geht mit seinen Stücken an neuralgische Orte. Etwa nach Ruanda und fragt wie die Gesellschaft den Völkermord dort mit Mitteln der Kunst und des Schauspiels angeht, ja betrauern kann. Oder wenn Ferdinand von Schirach eine Flugzeugentführung inszeniert und das Publikum hinterher zum Richter macht, zeigt er, wie schwierig der Umgang mit Terrorismus sein kann, juristisch und moralisch. Für mich sind das wichtige Denkanstöße!

„Kultur muss nicht politisch sein, aber sie schafft etwas, was der Politik oft  nicht gelingt: Sie zeigt Träume, Utopien auf, kann neue Ideen für ein gesellschaftliches Miteinander erproben.“

arsmondo: Man schaut über das Künstlerische auf unsere Welt und erkennt neben den Chancen auch das Dilemma – dass die Dinge gar nicht so einfach sind, wenn man selbst gefragt und aufgefordert wird…
Ja, aber ich glaube, dass die Kunst genau da jetzt auch besonders gefragt ist – dass sie uns motiviert, Haltung zu zeigen, für etwas einzustehen.

arsmondo: Kultur als Zuflucht und Ratgeber in schwierigen Zeiten? Als  Orientierung?
Schöner Gedanke! Sie kann auf jeden Fall entschleunigen. Anders als Politik oder Wirtschaft muss sie ja nicht sofort Antworten parat haben. Sie muss nicht objektiv sein, darf auch mal schräg sein. Muss sich nicht vor sich hertreiben lassen und auf jede Provokation einsteigen. Und welche existentielle Rolle Kunst und Kultur in einer totalitärer werdenden Gesellschaft spielen kann, haben wir 2008 erlebt. Damals war ich mit meinen 3sat Kulturzeit-Kollegen für eine Sondersendung in Moskau. Anlässlich der Präsidentschaftswahlen haben wir ein Spezial zu „Russlands Künstlern und ihrer Sehnsucht nach Demokratie“ gemacht. Viele der beteiligten Autoren, Künstler und Kuratoren haben später ihren Job verloren, mussten ins Exil. Wir haben erlebt, wie Künstler die Wahrheit verteidigten und welchen Preis sie dafür zahlen mussten.

arsmondo: Welche Art Kunst fasziniert Ariane Binder privat? Welche  Fragen und Themen beschäftigen Sie?
Ach, so viele, so unterschiedliche! Künstler, die mit Ihrem Blick frische Fragen, Neugier oder Schönheit in diese manchmal ganz schön bedrängte Welt tragen! Mal sind es Performances von Marina Abramović, die mich berühren. Mal die Arbeit eines Peter Doig, die Poesie von William Kentridge oder die überwältigende Literatur des US-Amerikaners James Salter. Gerade hat mir der Autor George Saunders das Leben nach dem Tod ausphantasiert, in seinem unglaublichen Debüt „Lincoln im Bardo“. Das kann doch wohl nur die Literatur!

arsmondo: Ihr Credo lautet „Kultur ist die wichtigste Sache der Welt“.  welche Themen, Menschen und Geschichten liegen Ihnen denn besonders am Herzen?
Wir berichten natürlich weiter über die klassische „große“ Kultur. Aber es wird auch viel Raum für künstlerische Neuentdeckungen geben. In einer neuen Serie „100 Sekunden Kunst“ stellen wir zum Beispiel jede Woche ein Kunstwerk aus einer öffentlichen Sammlung im Südwesten vor. Eine Kooperation mit Studierenden der Merz Akademie. Die dann ihre ganz eigene filmische Erzählsprache einbringen und mal aus der Perspektive der Digital Natives auf die Kultur schauen. Für mich ist unsere Sendung eine, die mit viel Leidenschaft und Augenzwinkern gemacht wird und ich wünsche mir, dass sich das überträgt. Dass wir den Leuten Lust machen, wieder mehr zu lesen, mehr ins Theater zu gehen und sich da mit den großen und kleinen Fragen unserer Gegenwart auseinanderzusetzen!

Das Gespräch führte Claudia Fenkart-Njie, Herausgeberin von arsmondo

Kunscht!
Moderatorin Ariane Binder beim Dreh vor dem Kunstmuseum in Stuttgart, Foto: SWR

 „Kunscht! Kultur im Südwesten“ „Kunscht!“ ist das wöchentliche Kulturmagazin des SWR-Fernsehens: Jeden Donnerstag, um 22:45 Uhr werden in der 30-minütigen Sendung aktuelle Themen aus dem vielfältigen Kulturgeschehen im Südwesten gezeigt – von der Opernpremiere bis zum Rockfestival, von Musical bis Comedy, von der Ausstellungseröffnung bis zum Trickfilmfestival.