Theater als Schocktherapie

Ein Orchester, eine Schauspielerin, eine Performerin, ein Tänzer, vier Opernsänger, eine Charaktertänzerin, ein Tonpult und viele Lautsprecher: Die Schauspiel- und Opern Regisseurin Anna-Sophie Mahler, die sich verstärkt auch mit experimentellen Formen im Musiktheater beschäftigt, inszeniert Die sieben Todsünden / Seven Heavenly Sins.
Am Samstag, den 2. Februar 2019 feierte im Schauspielhaus erstmals seit 23 Jahren wieder eine Neuproduktion Premiere, an der alle drei künstlerischen Sparten der Staatstheater Stuttgart beteiligt sind.
Der Theaterabend besteht aus drei Teilen und beginnt mit Kurt Weills und Bertolt Brechts mehr als 80 Jahre altem Stück: Die sieben Todsünden. Dem Ballett mit Gesang wird im 2. Teil mit Seven Heavenly Sins ein zeitgenössischer Standpunkt entgegengesetzt. Seven Heavenly Sins dreht das Konzept der Todsünden um und setzt ihm eine queere Lesart entgegen, in der die Freiheit des*der Einzelnen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, an erster Stelle steht. Seven Heavenly Sins ist damit nicht nur eine zeitgenössische Aneignung der vom Katholizismus erfundenen Todsünden, sondern ebenso eine feministische Antwort auf das Autorenduo Brecht und Weill.

Im 3. Teil des Abends kommt noch einmal der symphonische Klang zurück und das Stuttgarter Staatsorchester spielt The Unanswered Question des amerikanischen Komponisten Charles Ives. Die gealterte oder zukünftige Anna verabschiedet sich mit einem letzten Tanz vom Leben. „In The Unanswered Question von Ives gibt es neben sphärischen, liegenden Akkorden immer wieder einschneidende Störungen durch eine Trompete, die den himmlisch sanften Klang durch ,Fragen‘ unterbricht. Interessanterweise sind es sogar wieder genau sieben Fragen, die dann ein Holzbläserpart zu beantworten versucht.“, konstatiert die Regisseurin des Abends Anna-Sophie Mahler.
Auf der Bühne stehen in der Hauptrolle der Anna folglich gleich mehrere Künstler*innen: Josephine Köhler, neues Ensemblemitglied am Schauspiel Stuttgart, sowie Halbsolist Louis Stiens vom Stuttgarter Ballett sind ebenso dabei wie die kanadische Electroclash-Sängerin und Musikproduzentin Peaches und die ehemalige Erste Solistin des Stuttgarter Balletts Melinda Witham. Mit von der Partie außerdem: die Sänger Elliott Carlton Hines, Gergely Németi, Christopher Sokolowski und Florian Spieß. Balletttänzer Louis Stiens choreografiert und Stefan Schreiber dirigiert das Staatsorchester Stuttgart.

Der Abend ist ausgesprochen speziell, ja ein Spektakle, stellt viele Fragen und bietet Raum für eigene Schlüsse und Lösungen. Hier wird alles aufgefahren, was unsere moderne Welt an Entertainment geschaffen hat: Wir werden geblendet von hellem Scheinwerferlicht und beschallt mit modernster Soundtechnik. Das Publikum mag und kann es kaum erfassen, was es vor allem im 2. Teil des Abends zu sehen bekommt. Doch wenn sich die Schockstarre erst einmal gelegt hat, bleibt etwas anderes haften; nämlich, dass es manchmal genau diese Dosis an Irritation braucht, um uns wirklich zum Nachdenken zu bringen!

Die sieben Todsünden / Seven Heavenly Sins: Josephine Köhler, Foto: Bernhard Weis

Im 1. Teil wird mit Die sieben Todsünden von Brecht und Weill die Geschichte einer jungen Frau, namens Anna erzählt, die von ihrer Familie auf eine siebenjährige Reise geschickt wird, um Geld für ein Eigenheim zu beschaffen. Dabei ist Anna ohne Unterlass den Erwartungen einer patriarchal strukturierten Gesellschaft ausgesetzt, die von ihr Anpassung und Gehorsam erwartet.

Die sieben Todsünden / Seven Heavenly Sins: Christopher Sokolowski, Gergely Németi, Louis Stiens, Florian Spiess, Elliott Carlton Hines, Josephine Köhler, Foto: Bernhard Weis

Die Regisseurin Anna-Sophie Mahler verlegte die Geschichte in eine Box-Ring Arena. Die junge Anna (Josephine Köhler) steigt in den Ring und kämpft. Angefeuert wird sie dabei von ihrer Familie – die aber wird verkörpert von einer reinen Männerriege. Ihre Gegnerin – ist sie selbst (verkörpert durch den Balletttänzer Louis Stiens). Umrahmt wird die Szenerie von Musikern des Staatsopernorchester. Die kanadische Punk-Sängerin und Musikproduzentin Peaches übernimmt den Part der Erzählerin.
Die beiden Annas kämpfen sich durch ihr Schicksal. Der Doppelpart symbolisiert dabei wirkungsmächtig, dass es hier nicht nur um von außen zugemutete Zwänge und Erniedrigungen geht, sondern auch um den Kampf mit sich selbst. Fast könnte man meinen, zwei Seelen kämpfen da auf der Bühne um alle Existenzfragen, die uns Menschen umtreiben. Die Annas – beide, Mann und Frau – führen einen Geschlechterkampf und stellen die Fragen, was ist männlich was ist weiblich. Die Anna in der Stuttgarter Inszenierung ist auch rein äußerlich ein Zwischenwesen (Gender lässt grüßen).

Die sieben Todsünden / Seven Heavenly Sins: Christopher Sokolowski, Gergely Németi, Louis Stiens, Florian Spiess, Elliott Carlton Hines, Peaches, Staatsorchester Stuttgart, Foto: Bernhard Weis

Die Anna des 2. Teils des Abends ist wütend, ja zornig – ihr Monolog eine zornige Abrechnung mit all dem, was Frauen seit Jahrhunderten beschäftigt. Sie spricht von denen, die nicht ins gängige Raster passen, von all den unerfüllten heimlichen Sehnsüchten – es geht um Sex, aber vor allem um das Andersseinwollen und um das Überleben in diesem Andersseinwollen. Es geht aber auch um den eigenen inneren Zwiespalt, dem Frauen jeden Tag ausgesetzt sind, zwischen den gängigen Rollenklischees, denen sie entsprechen sollen (möchten?) und dem Wunsch gleichzeitig frei und emanzipiert zu sein.
Mit Blick auf die jüngste Instagram-Studie, die die Schauspielerin Maria Furtwängler gemeinsam mit ihrer Tochter veröffentlich hat – wird eines dieser Rollenklischees (frau weigert sich fast, dies zu glauben) – vor allem von jungen Frauen weltweit zelebriert. Es geht ums Aussehen, ums richtige Schminken, um die Figur und ums Kochen. Dass aber genau das von den Frauen selbst inszeniert wird, macht nachdenklich – so kann man auch Annas Monolog deuten.
Natürlich weht noch die Unterdrückung der Frau aus dem 1 Teil herüber – in dem sie instrumentalisiert und geschunden wurde. Aber sie selbst scheint sich weiterentwickelt zu haben: Denn sie hat begriffen, dass es nicht nur um das Außen geht, um die Welt, in der das Patriachat noch immer vielerorts das Sagen hat, sondern darum, sich selbst als Frau zu hinterfragen. Wer und wie will ich sein oder noch besser, wie finde ich Antworten in mir selbst und für meine Situation.

Die sieben Todsünden / Seven Heavenly Sins
Louis Stiens, Peaches, Foto: Bernhard Weis
Die sieben Todsünden / Seven Heavenly Sins: Josephine Köhler, Peaches, Foto: Bernhard Weis

Was will Peaches? Sie verkörpert im 2. Teil die aggressive Anna, die, die mit gleicher Münze, ja sogar noch entschieden drastischer, auf das Patriachat, dass sie unterdrückt hat, zurück- und einschlägt.
Zwei Vulven umtanzen sie lasziv, auf der Bühne erscheint ein Riesenpenis aus Netzgewebe, in den sie hineinsteigt. Dazu dröhnen wilde Clubbeats der Sängerin, in denen sie die sieben Todsünden noch einmal neu erfasst und musikalisch interpretiert. Sie will Sex, sie will Spaß, weil sie ihn will und sie will vor allem eines – Freiheit. Die fordert sie mit so viel Power und Aggressivität ein, dass einem angst und bange werden kann. Frauen können auch, wenn sie wollen, und ja, noch schlimmer!
Der 2. Teil macht aber auch klar – dass dieser Aktionismus auch nicht die Antwort sein kann. Eventuell kann man dieses Gebaren als eine Art Zwischenphase verstehen, als Paukenschlag zu Beginn einer Entwicklung in eine Emanzipation, deren Weg (und vielleicht auch Ziel) noch nicht definiert ist: Am Anfang steht unüberhör- und übersehbar der Zorn und die damit verbundene Einsicht, dass sich nur etwas ändert, wenn dafür gekämpft wird.

Das Ende – der 3. Teil ist kontemplativ. Anna, so scheint es, hat ihren Frieden gemacht. Zu den sphärischen Klängen von Ives beginnt sie ihren Tanz, richtet ihre Bewegungen mehr an sich selbst als an die Welt – jetzt geht es nur noch um sie, die Kämpfe liegen hinter ihr – sie ist müde und gleichzeitig stark im Innern – souverän schreitet, nein tanzt sie ihrem Ende entgegen. Abschied? Oder doch Aufbruch? Wie können wir die Antwort der Regie verstehen? Welche Botschaft will sie uns mit diesem letzten Teil überbringen? Hoffnung? Wenn ja auf was? Vielleicht darauf, dass am Ende alles gut werden wird: Aber nur wenn wir Frauen selbst zur Veränderung bereit sind, die eben immer auch Kraft kostet, um (vor allem vom Patriachat) ausgelöste Zwänge zu überwinden?

Die sieben Todsünden / Seven Heavenly Sins
Melinda Witham (hinten), Louis Stiens, Peaches, Josephine Köhler, Foto: Bernhard Weis

Spätestens nach diesem Abend ist klar: Theater als Ort für Utopien einer besseren oder schlechteren Welt kann mehr. Theater kann härter und unmittelbarer wirken als die Realität: Theater als Schocktherapie.
Andererseits: so neu ist das gar nicht.
Bereits im antiken Griechenland, der Wiege des Theaters hatte man ähnliche Intentionen. Die Griechen nannten jene besondere Art emotional-erzieherischer Maßnahmen Katharsis. Die Dramenstoffe waren oft drastisch, brutal und oft auch blutig: Die Zuschauer sollten den Schmerz und die Angst fühlen – um hernach geläutert und verändert herauszukommen.
Für einen Abend wurde das Schauspielhaus in Stuttgart zu einem solchen Ort. Da sah man eine wilde orgiastische Bühnenschau, nackte Körper, entblößte Brüste, wilde Tänze und hörte laute Beats. Damit haben sich die Stuttgarter viel getraut! Sie konfrontierten uns Zuschauer mit einem Experiment – einem harten, schwer verdaulichen Brocken, der nachwirkt!
Wahrscheinlich war eine Premierenfeier noch nie so turbulent erregt im Gesprächs- und Diskussionsrausch. Unsere Welt ist mitten im Umbruch – kein Tag vergeht, ohne dass wir nicht über Klimakatastrophen, Flüchtlings-Not, Kriege, regierende Despoten, me-too-Debatten, Fragen zur Geschlechterrollen Gender-Diskurse, Eurokrise, Dieselskandal, Umwelt-Vergehen, auf allen medialen Kanälen zu bombardiert werden. Jetzt ist das alles also auch im Theater angekommen. Warum so mag man sich fragen jetzt also auch noch im Theater? Vielleicht weil das Theater sich selbst hinterfragt. In der Pressemeldung vom Staatstheater ist zu lesen „Die Stadt- und Staatstheater in Deutschland sind wahrscheinlich die am wenigsten queer und feministisch orientierten Institutionen überhaupt, sie sind hierarchisch, patriarchisch und durch den Kanon, den sie aufgerufen sind, am Leben zu halten, sind sie konservativ…“ Also höchste Zeit für drastische Veränderungen! Oder – das Stück an diesem Abend jedenfalls hat dies gründlich widerlegt.

(Text: Claudia Fenkart-Njie & Susanne Heeber)

Die sieben Todsünden / Seven Heavenly Sins Ballett mit Gesang von Kurt Weill, Text von Bertolt Brecht/ Live Testimonial by Peaches Koproduktion von Staatsoper Stuttgart, Stuttgarter Ballett und Schauspiel Stuttgart
Regie: Anna-Sophie Mahler, featuring Peaches
Musikalische Leitung: Stefan Schreiber
Choreographie: Louis Stiens
Bühne: Katrin Connan
Kostüme: Marysol del Castillo
Licht: Jörg Schuchardt
Dramaturgie: Katinka Deecke

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