Öffentliche Urteilskräfte
und ihr Literaturarchiv

Lesen Sie ihren spannenden Exkurs in die literarische Welt, über Meinungen, deren Protagonisten, über Auswirkungen, Geschmacksbildung, Geisteshaltungen der letzten 300 Jahre bis heute

›Öffentliche Urteilskräfte und ihr Literaturarchiv‹. 

Urteilskraft – so hieß das Zauberwort der Aufklärung. Wer über Urteilskraft verfügte, konnte als mündiger Bürger unter Bürgern gelten. Aus solchen Bürgern entstand die Öffentlichkeit: die Wiege von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Diese Öffentlichkeit galt als moralischer Höhepunkt der Zivilisation, als Geburtsstätte der modernen Demokratie, als Polis des 18. Jahrhunderts. Geistig trug man Toga. Die aufgeklärte Öffentlichkeit beruhte auf der Urteilskraft im Singular: auf der einen unteilbaren Urteilskraft. Vernunft war ihre Quelle. Das beste Argument ihr Weg, der weiße christliche Mann ihr Akteur. Durch Erziehung, oder besser: Bildung sollten
Fürsten wie Bauern Philosophen werden. Ohne die Leistungen der Aufklärung wären wir heute nicht, wo wir sind. Doch ihre großen Versprechen wurden vielfach und mit guten Gründen als patriarchal, eurozentrisch, ahistorisch und weltfremd kritisiert. Der Aufklärung gebrach es an Aufklärung. Mit dieser Einsicht gingen und gehen sozialpolitische Prozesse einher: Immer mehr Personengruppen – zunächst die Bürger, die Arbeiter, dann die Frauen und viele andere mehr – beanspruchten Anerkennung. In der Folge haben sich die Öffentlichkeit und ihre Urteilskraft vervielfältigt – mit politisch wünschbaren Effekten. Heute ermöglicht die Vielzahl der Stimmen zwar die Teilhabe am öffentlichen Hörenund Gehört-Werden, aber sie garantiert kein vernünftiges Ergebnis mehr. In gegenwärtigen Öffentlichkeiten regieren viele, darunter nicht wenige halbstarke Urteilskräfte. Sie äußern sich laut und mit polemischer Schärfe in den neuen Medien. Mit ihrer Beschränkungauf wenige Zeichen, ihrer Beschleunigung und Kommerzialisierung von Debatten laden sie zur plakativen Äußerung ein.
Die Urteilskraft wird damit zur Ware, also zur bloßen Meinung verkürzt. Ihr Warencharakter schmilzt die Substanz der Urteilskraft ab: das ausgewogene und unparteiliche Abwägen von Argumenten, Gründen, Sichtweisen, Gefühlslagen, Unausgesprochenem und allzumenschlichen Menscheleien. Diese umfassende Einsicht machte die Urteilskraft einstmals überhaupt erst zur Grundlage der Aufklärung. Wie lassen sich die Tugenden der Urteilskraft wiederbeleben?

Der Blick zurück ins 18. Jahrhundert erweist sich als lehrreich. Unser aufklärerischer Gründungsmythos war zu einfach und einlinig erzählt. Vielmehr kannte schon die Aufklärung ihre Gegenaufklärung. Der erste prominente Denker der Urteilskraft gibt darüber Auskunft: der französische Protestant Pierre Bayle. Im Jahr 1697 veröffentlichte er sein „Historisches und kritisches Wörterbuch“. Es sollte schon deshalb Epoche machen, weil es kein Wörterbuch im Sinne eines reinen Nachschlagewerkes war. Bayle stellt historische Personen wie den Religionsstifter Mohammed und die griechische Hetäre Laïs vor. Der Blick in Bayles Artikel überrascht, denn der Haupttext dieser Artikel umfasst oft nur wenige Sätze. Dafür finden sich auf jeder Seite unzählige Fußnoten. In diesen Fußnoten passiert der aufklärerische Schreibakt: Bayle stellt unterschiedliche Einschätzungen vor und diskutiert sie mit Verve. Mohammed beispielsweise gilt ihm zwar als „falscher Prophet“, aber die Lügen, die über ihn im Umlauf sind, erregen Bayle so sehr, dass er über fünfzig Gelehrte zitiert, um die Äußerungen über Mohammed als Unwahrheiten zu entlarven. Bayle klagt über die Gewaltsamkeit, mit der Mohammed seine Religion etablierte, ebenso wie über seine rigide Gesetzgebung, die Frauen betreffend. Zugleich spürt er einer Behauptung nach, die ihn fasziniert: dass Mohammed nämlich eine Toleranzschrift für den Umgang mit anderen Religionen verfasst habe. Bayles Eintrag über Laïs hingegen lässt schmunzeln. Durch genaue Exegese der Quellen erörtert er, wieviele Liebhaber die kluge und schöne Laïs hatte und welcher Gelehrte wie viele davon zählte. Außerdem gibt Diogenes, der Philosoph, der angeblich wie ein Hund in einer Tonne lebte, ein ungelöstes Rätsel auf: Ausgerechnet er, der Kyniker, betete die besagte Dame ganz unzynisch an, und Bayle hätte wohl zu gern gewusst, ob dies nur deshalb geschah, weil sie sich ihm angeblich ohne Entlohnung hingab.

Sandra Richter, Pressefoto © Literaturarchiv Marbach

Der Leser möge über Fälle wie diese urteilen, so Bayles Forderung, und zwar unparteiisch. Bayle meinte mit ‚dem Leser‘ übrigens auch Frauen. Und oft waren sie es, die Bayles Wörterbuch in andere Sprachen übersetzen und zu dem machten, was es war: ein scharfsinniges und gewitztes Gründungsdokument der Aufklärung. So handelt es sich beispielsweise bei der deutschen Fassung aus den Jahren 1741 bis 1744 weniger um eine Leistung des damaligen Literaturpapstes Johann Christoph Gottsched, der auf dem Titel als Herausgeber vermerkt ist. Vielmehr hatte seine Frau, die Autorin Luise Adelgunde Victorie Kulmus, mehr als die Hälfte der Bayle-Artikel übertragen. Bayles Werk kann als Archiv zwischen Buchdeckeln gelten, vielstimmig und mitunter radikal. Bayle kritisierte vermeintlich eindeutige ‚Wahrheiten‘ der Geschichte und der zeitgenössischen Gegenwart. Seine Leserinnen und Leser sollten zu diskussionsfreudigen Skeptikern werden – durch Quellenkritik. Urteilen gilt hier nicht mehr wie zuvor als Angelegenheit der Herren auf dem Katheder, sondern als Anforderung an das Publikum bei Hofe, in der Stadt und auf dem Land. Urteilen erscheint als neues Kommunikations- und Lebensideal. Aufklärung und Gegenaufklärung waren Teil eines gemeinsamen Prozesses der Selbstreflexion.

Dieses frühe Bewusstsein für die vielen Urteilskräfte speist sich aus einer Debatte französischen Ursprungs: derjenigen über die Frage, was „guter Geschmack“ sei. „Guter Geschmack“ gehörte zu den Eigenschaften, durch die sich der Adel und die wohlerzogene Bürgerlichkeit gegen untere Schichten abgrenzten. „Guter Geschmack“ bezeichnete vieles: das Tragen standesgemäßer Kleidung ebenso wie die Gabe, angeregt über das Schöne, etwa eine Tragödie von Pierre Corneille zu plaudern. Der Geschmack verriet – wie es der spanische Jesuit Baltasar Gracián in seinem „Handorakel“ zeigte – Herkunft, Schwächen und Absichten eines Menschen. Bezeichnenderweise empfahl „der deutsche Bayle“, der Jurist und Philosoph Christian Thomasius, Graciáns Schrift im Jahr 1687 als ‚französische‘ Geschmackslehre. Ihr sollten die tumben Teutonen künftig nacheifern.

Bayles Wörterbuch leistete vor diesem Hintergrund vieles: Es erzählte salonfähige Geschichten und vermittelte, wie man mit Esprit debattieren konnte. So betrachtet erscheint sein intellektuelles Archiv auch als besonders umfangreiche Klugheitslehre wie als galante Konversationsübung. Aber der „gute Geschmack“ hat seine Tücken. Und diese liegen im Subjekt. Denn Empfindungen des Angenehmen oder Schönen sind unzuverlässig, abhängig vom Betrachter, Hörer und Leser. Als man sich beispielsweise um die Jahrhundertmitte über den ästhetischen Wert der französischen Klassik stritt, setzte sich Gottsched für sie ein: Gottsched erfreuten ihre Ideale, die Wohlanständigkeit und Wahrscheinlichkeit des Dargestellten. Gotthold Ephraim Lessing hingegen wetterte über die Banalisierung der Dramenlehren des Aristoteles, wie er sie vor allem Corneille vorwarf. Rationalisten wie der Mathematiker und Diplomat Jean Pierre de Crousaz sowie die Philosophen Alexander Gottlieb Baumgarten und Georg Friedrich Meier suchten, ästhetische Urteile vernünftig zu begründen. Wer sich am Schönen erfreute, der konnte aus ihrer Sicht auf ‚untere Vernunftvermögen‘ vertrauen. Sie funktionierten ebenso wie die oberen: die Vernunft und der Verstand. Skeptiker wie Bayle hingegen sahen ihre Position durch das unzuverlässige Schöne gerechtfertigt. Auch David Hume goss Wasser in den rationalistischen Wein: Aus seiner Sicht gefällt jedem Menschen etwas aufgrund seiner Erfahrungen und Vorlieben, und diese sind jeweils verschieden. Ästhetische Urteile lassen sich aus seiner Sicht nicht als richtig oder falsch, sondern nur als relativ erweisen. Im Ausgang des 18. Jahrhunderts versuchte Immanuel Kant, den gordischen Knoten Urteilskraft zu lösen. Urteile über das bloß Angenehme erscheinen Kant als subjektiv: Jeder empfinde anderes als angenehm. Der eine bevorzugt schweren Rotwein, der andere spritzigen Riesling. Urteile über das Schöne hingegen dürfen Allgemeingültigkeit beanspruchen und sind (mit Kant) nicht subjektiv. Denn das Schöne – Blumen oder ein Gemälde – gefalle „ohne Begriff allgemein“. Der Grund dafür liegt im „freien Spiel“ der Urteilskräfte.

Der Spielbegriff führt ins Zentrum der trotz Kant noch offenen Probleme, die das Schöne verursachte. Wie viele sogenannte Kant-Schüler deutete unser lokaler Held Friedrich Schiller den philosophischen Urvater munter und eigensinnig um. Schillers Kant-Ausgabe mit Marginalien, deren Abdruck sie auf der Einladungskarte finden, lässt es ahnen. Der Mensch sei nur dort ganz Mensch, wo er spielen, sich interesselos hingeben könne, meint Schiller infolge seiner Kant-Lektüre. So rechtfertigt Schiller vieles: zum einen die Auffassung von der Autonomie der Kunst, einer Kunst, die sich eigengesetzlich und ohne Rücksicht auf Verwendungszwecke entfalten soll. Zum anderen folgert Schiller, dass der Mensch sich nur unter bestimmten Umständen und in kleinen verschworenen Zirkeln öffnen könne. Ihre Mitglieder zeichnen sich nicht durch Geburt und Stand, sondern durch Liebe aus. Sie versöhnen „Sinne und Geist“, Auge und Ohr, verhelfen Vernunft und Schönheit gleichermaßen zu ihrem Recht. Schon für die Natur ist Schönheit ein Lebenselixier: Welcher Vogel bräuchte für den bloßen körperlichen Selbsterhalt ein buntes Federkleid, welcher Baum seine vielen Triebe? Der „reine Schein“ aber, der Schiller idealisch vorschwebt, vermag noch mehr: Er bildet ein eigenes Reich aus, einen „ästhetischen Staat“. Hier herrscht Freiheit, und eine alles harmonisierende Schönheit führt das Zepter. Den Menschen erteilt sie „einen geselligen Charakter“. Mit Schillers Worten: „Die Schönheit allein beglückt alle Welt, und jedes Wesen vergißt seiner Schranken, so lang es ihren Zauber erfährt.“ Schillers ästhetische Vision erscheint so verträumt wie faszinierend und in einem positiven Sinne utopisch.
Das Schöne gilt Schiller als Probierstein und Schule der Urteilskraft. Vor allem aber erweist es sich als Band zwischen den Menschen. Als ein Band, das unterschiedliche Temperamente, Lager und Fraktionen verbindet.

Das Schöne in seinen klassischen wie modernen Formen und seine Urteilskraft werden an einem Ort besonders kultiviert: dem Literaturarchiv. Ein solches Archiv ist keine beliebige Informationsinfrastruktur und auch nicht einfach nur ein Dienstleister für seine Nutzer. Vielmehr urteilt so ein Literaturarchiv selbst: Es archiviert, was es für bewahrenswert hält, kassiert, was nach Prüfung nicht dazugehört, erschließt, was zugänglich gemacht werden soll, und lehnt ab, was für dieses spezifische Archiv ungeeignet scheint. Auf diese Weise steht ein Literaturarchiv in direktem Kontakt mit der Ewigkeit. Es fällt ein folgenreiches Urteil über einen Autor und seinen Vor- oder Nachlass – aber eben nur ein Urteil. Konkurrierende Auffassungen gehören dazu. Deshalb handelt es sich etwa beim Deutschen Literaturarchiv Marbach um eine sich selbst notwendigerweise stetig reflektierende Einrichtung: um ein öffentliches Forschungsarchiv, das aus Abstimmungsprozessen heraus handelt und zwar kooperativ mit ähnlichen Institutionen, mit Literaturvermittlern wie Publizisten und Literaturhäusern, Wissenschaftlern und dem Publikum.
Die Urteilskräfte, die dabei am Werk sind, orientieren sich an Kriterien von ästhetischer Eigenheit und geistesgeschichtlicher Bedeutung sowie an Verblüffungsmomenten, die von einem Buch, einem Essay, einer klugen Polemik ausgehen. Nach Marbach gelangt, was sich durchgesetzt hat oder zu Unrecht vernachlässigt wurde, begleitet von der Hoffnung auf unbekanntes Strandgut, der Neugier auf den Zufallsfund.
Archivarische Urteilskräfte wie diese sind an der Quellenkritik à la Bayle geschult. In den reizarmen Kellerräumen des DLA wird giftige Polemik in säurefreie dunkelgrüne Kästen verstaut. Hier liegen Autoren nebeneinander, die sich im wirklichen Leben nichts zu sagen gehabt hätten: Martin Heidegger neben Hermann Hesse. Das Archiv egalisiert: Jeder Nachlass wird hier mit gleicher Sorgfalt behandelt. Streit hebt das Archiv durch Arbeit am Material auf. Zugleich ermöglicht es seine Wiederauflage für die Zeitgenossen, die sich an Ähnlichem reiben wie ihre intellektuellen Ahnen.
Ins Archiv gehen bedeutet: den handwerklichen Umgang mit Kulturgut schulen, sich durch die Auseinandersetzung mit schwierigen Handschriften wie etwa denjenigen Hölderlins in Geduld üben, im Vergleich von publizierten und nicht-publizierten, laut und leise gelesenen Werken Unterschiede entdecken. Lauscht man etwa der Aufnahme von „Manche freilich müssen drunten sterben“ aus dem Munde des Autors Hugo von Hofmannsthal, dann klingt sein Gedicht wie ein Lied von Galeerensklaven. Aus der Textversion lässt sich dies nicht ohne weiteres heraushören. Das Archiv – das DLA mit seinen 1.400 Vor- und Nachlässen, seinen 36 Verlagsarchiven, seinem über 100jährigen Tonarchiv der Literatur und seinen über 450.000 Bildern und Objekten – schult nicht nur das Lesen, sondern auch das Hören und Sehen.

Um diese sinnliche Fülle wahrnehmen zu können, bedarf es nicht nur der Quellenkritik, sondern auch der schillerschen, spielerischen Offenheit: Erst die Begeisterung für die Bestände, die Begeisterung für den so reizvollen, oft sperrigen und widerborstigen Gegenstand Literatur machen ein Literaturarchiv zu einem solchen. Und diese Begeisterung gebiert Fragen und Forschung. „Bestandsbezogene Forschung“ hat die Wissenschaftspolitik diesen Vorgang getauft und mit dem Forschungsverbund Marbach Weimar Wolfenbüttel ein wichtiges Experiment begonnen. „Bestandsbezug“ aber ist ein so nüchterner wie schillernder Begriff. Die Sammlungen des DLA regen Fragen an, geben sie jedoch nicht vor. Was in unseren Kellern liegt, lässt sich selten als eine vollständige und durchkomponierte Sammlung beschreiben. Epistemologisch ist wohl jede Sammlung unterbestimmt. Fragen und Forschungen im Archiv sind dem Bestand gewidmet und umspielen ihn zugleich. Das Archiv des Cotta-Verlags beispielsweise erweist sich erst einmal als unübersichtliche Summe von Briefwechseln, Manuskripten und Druckwerken. Sein Material strahlt durch bestandstranszendierende Fragen nach der persona von Autor und Verlegermäzen oder nach den transatlantischen, ja globalen Literaturbeziehungen, die der wirkungsmächtige Verlag einging. Solches Material legt es umgekehrt nahe, in der Forschung den Kurs zu wechseln: Nicht erst heute haben wir es mit internationalen Literaturmärkten zu tun; das Cotta-Archiv zeigt, dass Vernetzungen wie diese Literatur frühzeitig zu einem weithin bekannten Kulturgut machten. Heute können solche Vernetzungen auch im digitalen Raum stattfinden. Wenn wir Texte online verfügbar und vielleicht sogar im Volltext durchsuchbar machen, dann können auch Studierende in China und Afrika mitlesen. Wir sollten digitale Plattformen für Nachlässe wie diejenigen Franz Kafkas, Else Lasker-Schülers oder Stefan Zweigs aufbauen, die in unterschiedlichen Archiven liegen, um sie zumindest virtuell an einem Ort zugänglich zu machen. Wir müssen uns dem widmen, was in die Gegenwart hineinwachsende Archive zunehmend beschäftigt: dem Umgang mit Born-digitals, solcher Literatur, die meist kein Manuskript mehr kennt, sondern direkt auf dem Computer geschrieben wurde. Dank einer großzügigen Förderung des Landes Baden-Württemberg für ein Science Data Center Born-digitals können wir diesem Auftrag
künftig gemeinsam mit Partnern der Universität Stuttgart und des Bundeshöchstleistungsrechenzentrums Stuttgart besser nachkommen. Wenn ein Literaturarchiv wie das DLA seiner Öffentlichkeit etwas mitteilen kann und will, dann ist es seine „heilignüchterne“ Begeisterung, die aus Bestandskenntnis und fragender, forschender Neugier erwächst. Diese Begeisterung kann ebenso ernst wie witzig oder ironisch gebrochen sein und kennt eine große Bandbreite von Wahrnehmungs- und Zugangsweisen: das Staunen, Lachen, Weinen über einen Text ebenso wie die Spekulation, den scharfen analytischen Blick, die empirische Studie oder das Experiment.
Denn das Archiv bietet nicht nur Manuskripte und Briefe, sondern verzeichnet in seinen Büchern auch Lesespuren und handschriftliche Glossen. Realexistierende Leser, über die wir im Zeitalter des vielzitierten „Leseschwunds“ gerne mehr wüssten, dokumentieren sich hier selbst. Mit Partnern wie dem Leibniz-Institut für Wissensmedien und Kollegen der Universität Tübingen, dem Max Planck-Institut für Empirische Ästhetik und dem Goethe-Haus Frankfurt gründet das DLA deshalb gerade ein „Netzwerk literarische Erfahrung“. Gemeinsam wollen wir das Leseverhalten unserer Besucher, ihre Herkunft und ihre Vorlieben erforschen. Wir wollen mit unseren Mitteln dazu beitragen, die Lesekultur wiederzubeleben. Zu diesem Zweck wird das DLA mitunter auch den Raum wechseln, um zu fragen, ob Literatur in der Peripherie anders als etwa in der Hauptstadt wirkt. Die Begeisterung aus dem Archiv hilft dabei auf ihre eigene Weise. Denn manchmal erlaubt sie etwas ganz Besonderes, viel zu oft Vernachlässigtes: den Genuss, den Schiller arbeitsethisch als Folge und Bedingung von Tätigkeit beschreibt, die Muße, ohne die man nicht auf andere Gedanken kommt, und den Mut zu geistreichem Unsinn, aus dem mitunter erst Sinn entsteht.

So feinsinnig das klingt, ist das Archiv aber doch keine Pilgerstätte der Entschleunigung, sondern vielmehr ein Brennglas der Vergleichzeitigung. Hier wird Vergangenheit gegenwärtig, und die Gegenwart historisiert sich: Autoren geben ihre Nachlässe nicht deshalb ins Archiv, weil sie hier ihre letzte Ruhe finden wollen. Vielmehr hoffen sie auf das, was einst anschaulich Nachleben hieß und heute kühl Aktualisierung getauft wird. In den Museen des Archivs finden sich die kombinatorischen Zeichenspiele Wilhelm Waiblingers schon deshalb neben Hans Magnus Enzensbergers Poesieautomaten. Was aus der Zukunft der Literatur in das Brennglas des Archivs strahlen wird, können wir heute nur schemenhaft erahnen. Aber einiges lässt sich mit ahistorischer Sicherheit vermuten: Heute hätte Christoph Martin Wieland seinen „Agathon“ möglicherweise als Blog-Tagebuch verfasst, um seinen Helden mit liebevoller Ironie am Versuch der Selbstbildung scheitern zu lassen. Schillers „Räuber“ wären vielleicht ein Computerspiel geworden, ein Adventure-Game. Und aus Goethes Twitter-Meldungen über seine „Italienische Reise“ klänge der enthusiastische Ausruf: ‚Nach Tisch ohne Begleiter auf das Kapitol, oder besser: gleich ins Archiv. Wie wahr, wie seiend!‘ Der Begriff Archiv kommt bekanntlich von arché, griechisch: Anfang oder Ursprung. Hier ist der Ort, wo sich Schillers „ganzer Menschen“ immer wieder neu bilden kann.
Literaturarchive sind nicht bloß Luxustempel, die man sich auch leistet. Literaturarchive sind unverzichtbare Kulturorte. Sie bewahren, vermitteln und befragen die Erzählungen, Dramen und Verse, die Argumente und Denkformen, die Werte und Werturteilsstreitigkeiten, die unser Wahrnehmen und Entscheiden geprägt haben. In einer Zeit, die durch die Flüchtigkeit ihrer digitalen Aufschreibesysteme gekennzeichnet ist, versorgen sie unser kulturelles Gedächtnis mit Texten, Tönen und
Bildern. Aus einem solchen tätigen und reflexiven Gedächtnis erst entstehen die geistigen Grundlagen unserer Zivilisation: die Urteilskräfte, derer wir und künftige Generationen dringend bedürfen.

Sandra Richter widmete sich am Abend ihrer feierlichen Amtseinführung  in ihrer Ansprache dem Thema ›Öffentliche Urteilskräfte und ihr Literaturarchiv‹. Die Zuschauer hörten einen fulminanten Exkurs in die literarische Welt, über Meinungen, deren Protagonisten, über Auswirkungen, Geschmacksbildung, Geisteshaltungen der letzten 300 Jahre bis heute.

›Öffentliche Urteilskräfte und ihr Literaturarchiv‹.
Antrittsrede Prof. Dr. Richter

Sandra Richter  gilt als hervorragende Kennerin der Wissenschaftspolitik und des literarischen Lebens: Fellowships und Gastprofessuren führten die vielfach ausgezeichnete Wissenschaftlerin an zahlreiche Universitäten, u.a. an die École normale supérieure in Paris und die Harvard University; von 2011 bis 2017 war sie Mitglied in der Wissenschaftlichen Kommission des Wissenschaftsrats. In den Jahren 2006/07 hatte Richter eine Professur am King’s College London inne; seit 2008 lehrt sie an der Universität Stuttgart Neuere Deutsche Literatur und hat dort die fakultätsübergreifende Forschungseinrichtung ›Stuttgart Research Centre for Text Studies‹ (seit 2014) entwickelt und verschiedene interdisziplinäre Forschungsprojekte geleitet. Ihr jüngstes, vielbeachtetes Buch Eine Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur (2017) erkundet umfassend, auf welche Weise literarische Traditionen über die Jahrhunderte interkulturell geprägt sind. Richter ist Amtsnachfolgerin des Historikers und Publizisten Professor Dr. Ulrich Raulff, der das Haus von 2004 bis Ende 2018 geleitet hatte.

Das Deutsche Literaturarchiv Marbach (DLA) ist eine der bedeutendsten Literaturinstitutionen weltweit. In seinen Sammlungen vereinigt und bewahrt es eine Fülle kostbarster Quellen der Literatur- und Geistesgeschichte von 1750 bis zur Gegenwart. Seit seiner Gründung im Jahr 1955 dient es der Literatur, der Bildung und der Forschung. Die Sammlungen stehen allen offen, die Quellenforschung betreiben. Mit rund 1.400 Nachlässen und Sammlungen von Schriftstellern und Gelehrten, Archiven literarischer Verlage und über 450.000 bildlichen und gegenständlichen Stücken gehört das Archiv zu den führenden seiner Art in Deutschland und der Welt. Die Bibliothek ist die größte Spezialsammlung zur neueren deutschen Literatur und umfasst etwa 1 Millionen Bände, daneben über 160 Autoren- und Sammlerbibliotheken.
Das DLA führt gemeinsam mit anderen Institutionen und Universitäten interdisziplinäre und internationale Forschungsprojekte durch, die aus Drittmitteln gefördert werden.
Die Ausstellungen in den Museen des DLA, dem Schiller-Nationalmuseum und Literaturmuseum der Moderne, zeigen die Handschriften, Bücher, Bilder und Gegenstände des Deutschen Literaturarchivs. Die Museen, literarische und wissenschaftliche Veranstaltungen sowie eine Vielzahl von Publikationen thematisieren aktuelle Fragestellungen aus Literatur und Wissenschaft und machen die einzigartigen Archivalien einem großen Publikum zugänglich. Internationale Begegnungen ermöglicht zudem das Collegienhaus für forschende Gäste, Autorinnen und Autoren und Stipendiatinnen und Stipendiaten.