art digital

Seit jeher haben bildende Künstlerinnen und Künstler neue technologische Entwicklungen genutzt, um ihre Ausdrucks- und Gestaltungsmöglichkeiten zu steigern. Genau wie die Fotografie und der Film im 19. Jahrhundert neue Formensprachen und Wahrnehmungsmuster hervorbrachten, so war es in den 1960er Jahren das Massenmedium Fernsehen, das Künstler inspirierte. In der Folge wird dreißig Jahre später das Internet eine Wechselwirkung auf die Kunst ausüben und eine ästhetische wie kritische Herausforderung darstellen.

Vor über 50 Jahren begannen Künstler mit dem Medium Video zu experimentieren. Die Pioniere dieser künstlerischen Bewegung sind der Amerikaner Nam June Paik (1932-2006) und der Deutsche Wolf Vostell (1932-1998). 1963 fanden in New York und Wuppertal Ausstellungen dieser beiden Künstler statt, die heute als historisch angesehen werden können.(1) Während Vostell in New York ein Happening mit Fernsehgeräten und Kameras präsentierte, zeigte Nam June Paik in Wuppertal eine Video-Skulptur mit Schwarzweiß-Apparaten, die anstelle des Fernsehprogramms abstrakte Störbilder und Geräusche produzierten. Schon Walter Benjamin hat in seinem Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ auf die Verbindung zwischen neuen Technologien und daraus resultierenden Darstellungs- und Kunstformen verwiesen.(2)


Nam June Paik – Global Groove, 1973

In den 1960er Jahren setzten sich Künstler mit den Phänomenen Bewegung, Zeit und Wahrnehmung auseinander und versuchten, das Fernsehen kritisch zu hinterfragen und durch künstlerische Eingriffe zu individualisieren. Sowohl Vostell als auch Paik wollten den Fernsehapparat aus seiner normalen Umgebung herauslösen, wobei Vostell eher an seiner Destruktion und Paik mehr an seiner konstruktiven und skulpturalen Veränderung interessiert war. Als in den 1970er Jahren trag- und leistbare Videoausrüstungen auf den Markt kommen, verändert sich der künstlerische Zugang: Während die Fluxus-Bewegung das Medium Video nutzt, um den prozesshaften Charakter ihrer Performances zu dokumentieren, legen Andere ihren Fokus stärker auf die individuelle Gestaltung von Videofilmen und Videomontagen. Die sofortige Verfügbarkeit von Videobildern und die Gleichzeitigkeit von Realität und Abbild haben ganz neue Formen der Bilderzeugung und Wahrnehmung möglich gemacht. Zu Beginn untersuchten viele Künstler perzeptorische und kommunikationstechnische Fragestellungen, in den 1980er Jahren lässt sich ein verstärktes Interesse an narrativen Formen beobachten. Mit multiperspektivischen und asynchronen Erzählformen versuchte man sich gegenüber dem Medium Film abzugrenzen.

„Der Kunstmarkt verlangt nach wie vor repräsentative und einzigartige Kunstwerke, die für Authentizität stehen. Die meisten Medienkünstler arbeiten aber
abseits eines emphatischen Werk- und Schöpferbegriffs. Sie stehen für Innovationskompetenz und einen politischen und sozialen Aktivismus,
mit dem sie für einen uneingeschränkten Zugang zu Informationen und Technologien eintreten.“

Aus den frühen künstlerischen Videoexperimenten, die auf der documenta 6 im Jahr 1977 erstmals umfassend präsentiert und gewürdigt wurden, hat sich eine eigenständige Kunstgattung entwickelt, die heute selbstverständlicher Bestandteil der zeitgenössischen Kunstproduktion ist. Große Freude und Begeisterung vermögen Videofilme in Ausstellungen allerdings meist nicht hervorzurufen, denn die Bedingungen der Rezeption sind nicht immer ideal. Selbstverständlich hat sich in der Präsentation von Videokunst seit den 1970ern vieles verändert – der Monitor auf dem Sockel ist raumgreifenden Videoinstallationen und Mehrfachprojektionen gewichen – dennoch wird vielen Museumsbesuchern die Lust am Betrachten von Videofilmen durch fehlende Angaben über die Länge der Filme, mangelnde oder spartanische Sitzgelegenheiten und schlecht belüftete Dunkelkammern genommen. „Warum man beim Videogucken nicht bequem sitzen darf“, ist auch für Walter Grasskamp „eines der ungelösten Rätsel zeitgenössischer Kuratiererei“.(3)

Auch wenn elektronische Bilder heute vielgestaltige Präsentationsformen gefunden haben, stößt die Institution Museum mit ihren tradierten Ausstellungsweisen im Bereich der Medienkunst an ihre Grenzen. Das gilt besonders für jene Projekte ab Mitte der 1990er Jahre, die das Internet als künstlerisches Material und Werkzeug einsetzen. Unter Internet-Kunst oder Netzkunst versteht man alle Phänomene des Digitalen, die auf Netzwerken und dem World Wide Web basieren und primär im virtuellen Raum existieren. Um einen breiten öffentlichen Diskurs über digitale Kunst zu fördern und auf die schnelle Entwicklung der Informationstechnologien zu reagieren, wurden speziell für diese neue Kunstform Institutionen wie das Ars Electronica Center in Linz (1996) oder das ZKM – Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe (1997) gegründet. Mit adäquaten Präsentationsbedingungen und entsprechender technischer Ausstattung haben sie sich der Vermittlung virtueller Welten und immaterieller Kunst verschrieben.

Mit der technologischen und strukturellen Erweiterung von der Videokunst zur Netzkunst lösen sich tradierte Begriffe wie Originalität und Authentizität eines Kunstwerks zunehmend auf. Die vielfach zitierte Aura nach Walter Benjamin basiert auf einem originalen Kunstwerk, seiner Materialität, auf einer einzigartigen Idee, geschaffen von überragender Künstlerhand. Die digitale Kunst im Informationszeitalter verkehrt diese Ideale genau ins Gegenteil. Überhaupt stellt sie das gesamte Betriebssystem Kunst vor neue Aufgaben: Neben Fragen der Präsentation und Vermittlung stellt vor allem die Bewahrung und Konservierung dieser Kunstwerke Experten vor neue Herausforderungen. Videoarbeiten aus den 1970er Jahren beispielsweise sind schwer zu erhalten, weil die Technik von damals heute weit überholt ist. Weder verwendet man heutzutage noch Videokassetten und Videorekorder, noch sind alte Fernsehgeräte, die oftmals konstituierender Teil von Installationen sind, erhältlich. Das gleiche gilt für digitale Kunst. Die rasante Entwicklung der Technologie bringt zahlreiche Probleme der Kompatibilität sowohl der Hard-als auch der Software mit sich. Da Medienkunst einem schnellen Alterungsprozess unterworfen ist, lässt sich langfristig der Verlust von Arbeiten nicht ausschließen. Obwohl sich Museen und Kunstinstitutionen in den letzten zehn Jahren zunehmend den vielfältigen Formen der Medienkunst geöffnet haben, lässt sich im zeitgenössischen Ausstellungsbetrieb beobachten, dass sich die Auseinandersetzung mit multimedialen Kunstformen auf die einschlägigen Einrichtungen und Festivals konzentriert. Ein Grund liegt darin, dass sich digitale und Netzkunst herkömmlichen Rezeptionsrastern entziehen.

Computerkunst ist eher eine Erfahrung als ein physischer Gegenstand ist, sie ist temporär, ortsungebunden und kann jederzeit auf Computern und Handys abgerufen und oftmals von ihren Usern auch verändert und manipuliert werden. Dadurch entzieht sich diese Kunst den kommerziellen Verkaufsmechanismen des Kunstmarkts, womit eine Marginalisierung einhergeht, die selbst die Netzkunstszene kritisch reflektiert. Der Kunstmarkt verlangt nach wie vor repräsentative und einzigartige Kunstwerke, die für Authentizität stehen. Die meisten Medienkünstler arbeiten aber abseits eines emphatischen Werk- und Schöpferbegriffs. Sie stehen für Innovationskompetenz und einen politischen und sozialen Aktivismus, mit dem sie für einen uneingeschränkten Zugang zu Informationen und Technologien eintreten. Wie schon in der Vergangenheit sind auch heute Künstler und Computerspezialisten darum bemüht, die Möglichkeiten des neuen Mediums auszuloten und das Internet neuen und ungeahnten Nutzungsmöglichkeiten zuzuführen. Peter Weibel prognostiziert der Kunst des 21. Jahrhunderts, dass sie unter dem Paradigma des Internets stehen wird.(4) Auf die weitere Entwicklung darf man gespannt sein.(5) / Ein Beitrag von Gerda Ridler


ZKM | Karlsruhe

GLOBALE: Ryoji Ikeda /Beginn: So, 21.06.2015 Ende: So, 09.08.2015
Ort: ZKM_Lichthof 1 + 2

Als Auftakt der Ausstellung »Infosphäre« präsentierte der Komponist und Künstler Ryoji Ikeda in den Lichthöfen 1 + 2 des ZKM großformatige, auf die Architektur bezogene Projektionen und Klangwelten, in welche die BesucherInnen vollständig eintauchen können. Mit »the planck universe [micro]« und »the planck universe [macro]« wird eine Serie neuer Kunstwerke präsentiert, die durch den Dialog des Künstlers mit WissenschaftlerInnen des CERN, der Europäischen Organisation für Kernforschung, inspiriert wurden. Das CERN betreibt das größte Labor für Teilchenphysik weltweit. Ikedas neue synästhetische Arbeiten basieren auf Prinzipien der Teilchenphysik und Kosmologie und visualisieren – inspiriert von einer Supersymmetry genannten Zeit- und Raumtheorie – die unterschiedlichen Maßstäbe und Größenordnungen des Universums. 2012 erhielt Ryoji Ikeda zusammen mit Carsten Nicolai für die enzyklopädische Untersuchung der visuellen Formen des Klangs den Giga-Hertz-Preis für Sound Art des ZKM. Die mathematischen und physikalischen Qualitäten von Sound wurden in dem Buch und der CD-ROM cyclo.id vorgestellt. So entstand ein Atlas von mehr als tausend Wellenformen, Sinuswellen, visualisiert und vertont. Musik wurde zu Physik.Ikedas Klangkunst beschränkt sich im Wesentlichen auf Rauschen, auf Bits und Bytes von Geräuschen. Da er seine Sounds hauptsächlich aus digitalen Quellen generiert, kann er die digitalen Daten synästhetisch bzw. korrespondierend in akustische und visuelle Formen verwandeln (z.B. »test pattern«, 2008). Ikeda ist einer der ersten Datenkünstler, der uns die Datenwelt der Infosphäre vor Augen und Ohren führt, wie seine Werktitel »dataplex« (2005), »dataphonics« (2010) und »data.tron« (2010) belegen. Wie ein Hacker dringt er in diese Welt ein und macht ihre verborgenen Wesensmerkmale – ihren Code – sichtbar: Datenströme und abstrakte Rechenprozesse entfalten sich und umfangen die BetrachterInnen.


1 Nam June Paik, „Exposition of Music – Electronic Television“,
Galerie Parnass, Wuppertal, 1963
Wolf Vostell, „TV-Décollage“, Galerie Smolin, New York 1963
2 Vgl. Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen
Reproduzierbarkeit (1936), Frankfurt/Main 1977. Der Autor nennt das
Beispiel Film, das durch Zeitlupen, Stills oder Zooms ganz neue
Betrachtungsweisen hervorbringt.
3 Walter Grasskamp, Ein Urlaubstag im Kunstbetrieb. Bilder und Nachbilder,
hrsg. von Wolfgang Ullrich, Hamburg 2010, S. 25.
4 Zit. nach: http://www.neuegegenwart.de/ausgabe52/weibel.htm
(15.2.2013). „Die Kunst des 20. Jahrhunderts stand unter dem Paradigma
der Fotografie. In der elektronischen Welt (E-World) und deren elektronischen
Medien (E-Media) wird die Kunst des 21. Jahrhunderts unter dem
Paradigma des Netzes (Internet) stehen (…).“
5 Umfangreiche Informationen zum Thema Medienkunst bietet die Internet-
Plattform www.medienkunstnetz.de: Medien Kunst Netz fördert vor
dem Hintergrund der künstlerischen und medientechnischen Entwicklung
im Laufe des 20. Jahrhunderts das Verständnis für historische und
aktuelle Bezüge der künstlerischen Arbeit in und mit den Medien und
bietet umfangreiche Essays und ein Archiv relevanter Künstler
und Kunstwerke.