Schall und Rau(s)ch: Dunstkreis der Dosierung!

Drogenkonsum ist so alt wie die Menschheit. Schon immer diente er zur Kreativitätssteigerung, Realitätsflucht, Lusterhöhung und Grenzüberschreitung des Bewusstseins.
Die Städtische Galerie Böblingen zeigt in ihrer neuen Sonderausstellung künstlerische Positionen zu jener tief in der menschlichen Natur verwurzelten Suche und Sehnsucht nach Zuständen außerhalb der Wirklichkeit und des Alltags.

Jim Avignon, The Roaring Nineties 2023

Die vielschichtige Gruppenausstellung in Böblingen will anhand von ausgewählten Werken, die von der Klassischen Moderne bis zu jungen Positionen der Gegenwartskunst reichen, den unterschiedlichen Facetten von stimulierenden wie suchtfördernden Stoffen nachspüren und in raumgreifenden Installationen auf unkonventionell experimentelle Weise nachempfindbar machen. Künstlerische Ausgangspunkte bilden hierzu zum einen die dreiteilige „Stammtisch-Serie“ des Böblinger „Haus- und Hofkünstlers“ Fritz Steisslinger (1938-1944) sowie das neusachliche Gemälde „Der Raucher“von Tell Geck (1926). Dass die Ausstellung zeitlich mit der aktuellen gesellschaftspolitischen Diskussion rund um die Legalisierung von Cannabis zusammenfällt, ist Zufall denn die Idee dazu kam Museumsleiterin Corinna Steimel bereits Jahre früher, und zwar während eines Atelierbesuchs bei einem der teilnehmenden Künstler. Auf die Ambivalenz zwischen Wissenschaftsgläubigkeit und Wohlgefühl, zwischen Sein und Schein von Drogen und deren Konsum verweist auch die titelgebende Überschrift der Ausstellung Schall und Rau(s)ch: Dunstkreis der Dosierung! Das leicht abgewandelte Zitat stammt aus Goethes «Faust. Der Tragödie erster Teil» (1829):
„Ich habe keinen Namen dafür! Gefühl ist alles; / Name ist Schall und
Rauch, umnebelnd Himmelsglut.“

Tell Geck, Der Raucher, 1926, Öl auf Karton, 41,5 x 37 cm, Städtsiche Galerie Böblingen

Ein kurzer Blick in die Geschichte macht deutlich, warum das Thema uns bis heute auf so vielfältige Weise beschäftigt und in Böblingen jetzt brandaktuell mit Mitteln der Kunst zur Diskussion aufruft.
Als „Droge(n)“ galten im deutschsprachigen Raum einst sämtliche pharmazeutisch nutzbaren Pflanzen und Pflanzenteile, Pilze, Tiere, Mineralien, etc., später, um die Jahrhundertwende wurde das Wort dann grundsätzlich auf alle pflanzlichen, chemischen und kosmetischen Heilmittel, Arzneien und Erzeugnisse angewandt. Etymologisch stammt der Drogen-Begriff von dem niederländischen „droog“ ab, was „trocken“ bedeutet. Während der holländischen Kolonialzeit wurden damit getrocknete Pflanzenextrakte beschrieben, aus denen Genussmittel, etwa Tee, Gewürze und Tabak aus Übersee hergestellt wurden. Hierzulande breitete sich der Drogenkonsum im Verlaufe des 19. Jahrhunderts aus und hinterließ eine facettenreiche und faszinierende Geschichte voller Widersprüchlichkeiten. Ob Alkohol, Tabak oder Opiate aller Arten: In den frühen Jahren des 20.Jahrhunderts gab man sich vor allem in den europäischen Großstädten nur zu gern in rauschhafte Zustände. Höhepunkt dieser Entwicklung war dann die Zeit zwischen den Weltkriegen, den sogenannten „Goldenen Zwanziger“ in der Elend, Euphorie und Ekstase sowie Glanz und Dekadenz ganz nahe beieinander lagen. In Chemielaboren wurden dann ab den 1930er-Jahren Arznei- und Aufputschmittel, etwa Pervitin, heute als Crystal Meth bekannt, erschaffen, dass für die Bevölkerung in den Apotheken frei, d. h. nicht verschreibungspflichtig und legal erhältlich war. Soldaten, die unaussprechlichen Schrecken in den Schützengräben und den Frontlinien des Zweiten Weltkriegs ausgesetzt waren, wurden hochwirksame Substanzen zur Schmerzlinderung, zum Stressabbau und zur Angstüberwindung verordnet und zugeteilt. In der Nachkriegszeit kam es dann unter der Pluralform „Drogen“ zu den negativen Zuschreibungen, die bis heute gelten und vor allem die gesundheitsschädliche, da suchtfördernde Wirkung in den Vordergrund stellen.

Der Blick in die Historie zeigt welche sozialen, gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Mechanismen am Werke waren. Systemwechsel entschieden nicht zuletzt auch immer wieder darüber,
welche Drogen als legal oder illegal, „hart“ oder „weich“ eingeordnet wurden.
Das Böblinger Ausstellungskonzept stellt sich jenen Aspekten und orientiert sich an Schwerpunkten wie „Erforschung“, „Experiment“ und „Emotion“ mit dem Ziel, die breite wie bunte Palette an bewusstseinsverändernden Substanzen und ihre Wirkungsformen aufzuzeigen und Menschen aller Altersstufen für die Problematik zu sensibilisieren, ohne dabei mit dem mahnenden Zeigefinger zu argumentieren. Während der Laufzeit der Ausstellung entsteht ein Katalog, das Begleitprogramm ist im Austausch mit zahlreichen Gegenwartskünstler:innen sowie Ansprechpartner:innen für Sucht und Prävention der Stadt Böblingen, des Polizeimuseums und weiteren Einrichtungen vor Ort entwickelt worden. Zusätzlich wird eine Kooperation mit dem Schönbuch-Brauhaus in Böblingen angestrebt, die in diesem Jahr ihre Jubiläumsfeierlichkeiten begehen. Darüber hinaus gibt es Vorträge von Neurologen oder Toxikologen und Performances.

Renate Liebel, Pandemic Drink. Spiegel, Likörgläser, Bierflaschen, Fimo, Sprühlack, Keramik, Glasperlen, wilde Möhre, Eicheln, Superfluffy, Knete, Steine, Paletten, Echthaarzöpfe. 40 x 70 x 40 cm, 2020, Foto von Thommy West 2022.

Künstler*innen der Gegenwart: Jim Avignon, Gero Beer, Natalija Borovec, Helmut Dietz, Maria Fernandez-Hansen, Corine Forest, Marcus Gwiasda, Gottfried Helnwein, Birgit Herzberg-Jochum, Friederike Just, Khalil El Mejnaoui, Andi Kluge, Justyna Koeke, Renate Liebel, Udo Lindenberg, Désirée Lune, MARCK, Maso, Gökçe Messmer, Johanna Mangold, Marcel Mieth, Blerta Osmani, Jan-Hendrik Pelz, Ellen Rein, Laila Schubert, Jenny Winter-Stojanovic, Leif Kauz-Zeller, Hannah Zenger, Danielle Zimmermann
Künstler*innen der Klassischen Moderne: Oskar Gawell, Tell Geck, Karl Hubbuch, Helena Rodi (Sonntagsmalerin aus der Sammlung Eisenmann), Rudolf Schlichter, Fritz Steisslinger

Tell Geck, Der Raucher, 1926, Öl auf Karton,
41,5 x 37 cm, Städtsiche Galerie Böblingen

Weitere Informationen:
Dauer: 11. November 2023 bis 14. April 2024
Städtische Galerie Böblingen
VERNISSAGE + SHOW: Samstag 11.November 2023, 15 UHR
After-Show-Party — ab 17 Uhr
Programm mit Barbetrieb
Musik: One-Man-Band NEOANGIN
featuring NOVA HUTA, Berlin; DJ TiZiAN Stuttgart, Performance: DESIREE LUNE „Das Rauschen der Sirenen”