2020 feiert das Land Baden-Württemberg und mit ihm die literarische Welt Johann Christian Friedrich Hölderlins 250. Geburtstag. Kaum ein anderer Dichter fordert die Literatur und die Künste immer wieder so heraus, wie der am 20. März 1770 geborene Dichter. Sein bewegtes Leben in Zeiten großer politischer und kultureller Umbrüche nach der Französischen Revolution, die Rätsel und Extreme in seiner tragischen Biografie – Genie und Krankheit, Traditionsbewusstsein und Experiment, Hadern mit dem Glauben und Aufklärung – und seine dichterische Meisterschaft haben Generationen von Literaturwissenschaftlern, Leserinnen und Lesern beschäftigt. Kaum einer hat die deutsche Sprache so bereichert wie er.
arsmondo beschäftigt sich in allen vier Ausgaben 2020 mit dem Ausnahmedichter.
„Wohin denn ich?“ Am Anfang unserer biografischen Betrachtungen soll die dunkle und lange zweite Hälfte seines Lebens stehen. 1806 wird Friedrich Hölderlin in die Universitätsklinik in Tübingen eingeliefert. Die Diagnose lautet „Wahnsinn“. Die Ärzte halten ihn für unheilbar krank und rechnen mit seinem baldigen Tod. Also wird er der Familie des Schreiners Ernst Zimmer anvertraut, die seine Dichtung schon lange bewundert. Doch Hölderlin lebt und schreibt noch 35 Jahre im bekannten Tübinger Turm und wird mit Respekt und unendlicher Geduld umsorgt.
Im Dezember 1801 war der einunddreißigjährige Hölderlin von seiner schwäbischen Vaterstadt Nürtingen zu Fuß nach Bordeaux aufgebrochen, um – zum wiederholten Mal in seinem Leben – eine „Hofmeisterstelle” anzutreten, diesmal als Erzieher bei der Familie des begüterten Weinhändlers und Konsuls Daniel Christoph Meyer aus Hamburg.
In den drei Jahren zuvor verfasste er zwar einen Großteil seiner bedeutendsten Gedichte, doch sein Leben war von stetiger Unruhe, Zerrissenheit, existenzieller Anspannung und rätselhaften Abreisen geprägt. Auch in Bordeaux hielt es Hölderlin nicht lange aus: Am 28. Januar 1802 angekommen, kündigte er bereits im Mai, um sich auf den Rückweg über Paris in seine Heimat zu begeben. Zunächst kam er, wie schon vor dem Aufbruch nach Frankreich, bei seinem revolutionär gesinnten Freund Isaak von Sinclair in Bad Homburg unter. Der Dichter wurde dort als Bibliothekar beschäftigt. Doch Sinclair schrieb im Juli 1805 an Hölderlins Mutter: „Es ist nicht mehr möglich, dass mein unglücklicher Freund, dessen Wahnsinn eine sehr hohe Stufe erreicht hat, länger eine Besoldung beziehe und hier in Homburg bleibe.” Die Mutter ließ Hölderlin daraufhin gegen seinen hartnäckigen Widerstand in einer Kutsche nach Tübingen bringen. In jenen Tagen der Heimkehr erfuhr Hölderlin außerdem, dass seine wahre Liebe, Susette Gontard, die Diotima seines Romans „Hyperion“, am 22. Juni an Röteln gestorben war.
Im Oktober 1806, nach Hölderlins Einlieferung in die Autenriethsche Irren-Anstalt, wird in einem Bericht des Staatsministeriums Stuttgart von einer Nervenkrankheit „als Folge von angestrengten Studien, Arbeiten bei Nacht und Unterlassung der nöthigen Bewegung“ gesprochen. Nervenzerrüttung aufgrund angestrengten Studierens war eine gängige Zeitmeinung, wonach Krankheiten auf ein Zuviel oder Zuwenig an Erregung zurückzuführen seien. Sie taucht in einer vom württembergischen Innenministerium 1832 in Auftrag gegebenen statistischen Erfassung aller Geisteskranken im Regierungsbereich wieder auf. In dem zu Friedrich Hölderlin angelegten Datenblatt stehen dort folgende Bemerkungen: „Urs(achen) Schwächung, unglückl(iche) Liebe, Studien“.
Dichtung und Wahnsinn
Für viele Zeitgenossen und die Nachwelt entsprach der wahnsinnige und besessene Dichter im Turm den Vorstellungen. Vor allem die Romantiker und später die Expressionisten waren davon begeistert. Denn ihnen galt nur der geisteskranke Dichter als wahrer Dichter. Dem Wahnsinn wurde eine besondere Beseeltheit zugeschrieben, man sprach gerne vom „heiligen“ Wahnsinn. Der Wahnsinnige befindet sich im Zustand der seelisch-geistigen Schwerelosigkeit, ist der schlechten Wirklichkeit entrückt, und seine befreite Fantasie ermöglicht ihm rauschhafte Glückserfahrungen, die die bürgerlichen Tugenden negieren. Der wahre Künstler muss irgendwie verrückt sein!
Und selbst der Psychiater – Karl Ludwig Kahlbaum – schreibt noch 1874 über Katatonie (manische Erregtheit): „(…) schlägt die Einbildungskraft Brücken von einer Unmöglichkeit nach der anderen; zahllose Stege baut sie ihm, er wählt, wie`s ihm beliebt… Wieviel ärmer sind wir! Für uns gibt es nur die eine nüchterne, langweilige, unverrückbare, zwingende Wirklichkeit. Dem Künstler gelingt es zuweilen, sich aus den Fesseln des realen Seins zu befreien, doch bald schleppt ihn der Häscher der Notwendigkeit, der Bruder des Philistertums, die phantasielose, seelenfremde Logik wieder zurück in die Armut der nackten Tatsächlichkeit.“
„Der Hölderlin isch et verruckt gwä!“
Im Hölderlin-Turm in Tübingen steht in Sütterlin-Schrift ein Satz an der Wand: „Der Hölderlin isch et verruckt gwä!“ Dieses ziemlich ungewöhnliche Graffito ist Zeugnis einer Diskussion, die Leben, Werk und Nachruhm Friedrich Hölderlins schon immer begleitet: War Friedrich Hölderlin am Ende tatsächlich „geistig umnachtet“ oder hat er seiner Umgebung nur etwas vorgespielt?
Es war der französische Germanist Pierre Bertaux, der 1978 die These aufstellte, Hölderlin sei, inspiriert von der Französischen Revolution, Anhänger einer „Schwäbischen Republik“ gewesen, sei verraten und von Wohlgesinnten für geisteskrank erklärt worden, um ihn vor einem Hochverratsprozess samt Kerkerhaft zu schützen. Der Dichter habe sich also aus der Welt zurückgezogen, um als „Verrückter“ gefahrlos weiter dichten zu können.
Wir erinnern uns an Friedrich Hölderlins Aufenthalt bei seinem revolutionär gesinnten Freund Isaak von Sinclair in Bad Homburg. Sinclair selbst wurde wegen revolutionärer Kontakte und Verschwörung gegen Friedrich Wilhelm Karl von Württemberg im Februar verhaftet und ausgeliefert. Er kehrte aber bereits im Juli zurück und schrieb den Brief an Hölderlins Mutter. Es ist nicht auszuschließen, dass dies als Schutzmaßnahme für den Dichter gedacht war. Und tatsächlich schreibt der Freund bereits vor seiner Verhaftung in einem früheren Brief an dieselbe Adresssatin: dass, was Gemütsverirrung bei ihm scheint , „…. eine aus wohl überdachten Gründen angenommene Äußerungsart“ sei. Und Tatsache: Hölderlins Auslieferung steht im März 1805 an, wird dann aber aufgrund von Berichten und ärztlichen Zeugnissen über seinen „höchsttraurigen Gemütszustand“ nicht durchgeführt…
Und da wäre in jüngster Zeit Reinhard Horowski, seines Zeichens Arzt und Pharmakologe, der in seinem 2017 erschienen Werk „Hölderlin war nicht verrückt: Eine Streitschrift“ die verbreitete Diagnose Hölderlin sei schizophren gewesen zerpflückt. Er erklärt die Absonderlichkeiten des Dichters mit den Folgeschäden einer barbarischen Fehltherapie: Er sei In Tübingen mit Kalomel (Quecksilberchlorid), einem damals gerne angewendeten Mittel, dauerhaft vergiftete worden.
Es ist zum verrückt werden
Die Antwort auf die Frage – war er nun verrückt, ein von „heiligem“ Wahnsinn Geschlagener, depressiv und psychisch angeschlagen, von existenziellem Liebeskummer geplagt, schlichtweg überarbeitet oder einfach nur raffiniert – scheint vom wissenschaftlichen Entwicklungsstand der Psychiatrie, vom jeweiligen Zeitgeist oder einfach nur vom interpretatorischen Blickwinkel abzuhängen. Nichts ist eindeutig… „Komm! ins Offene, Freund!“
Susanne Heeber