Es ist eine Gabe, so leichthändig die großen Probleme der Menschheit abzuarbeiten. Seit mehr als 60 Jahren schreibt Caryl Churchill an ihrem substanziellen, wirkungsstarken und engagierten Werk. Die Vielfalt ihrer Formen resultiert aus der Vielfalt ihrer Themen. Churchill greift gesellschaftliche, humane, wissenschaftliche und politische Fragestellungen auf. In diesem Jahr wurde die Grande Dame der britischen Gegenwartsdramatik für ihr Gesamtwerk mit dem Europäischen Dramatiker:innen Preis 2022 ausgezeichnet.
In den 70er-Jahren wurde ihr Schreiben feministisch. Sie begann Gender- und Geschlechterfragen zu stellen, Rassismus und Kolonialismus zu thematisieren. Und ihre Positionen entwickelte sie stetig weiter: „Churchills Stücke sind weiblich im Sinne von anders. Sie sind emotional, ohne sentimental, sensibel, ohne innerlich zu sein; indem Churchill Frauen ganz selbstverständlich als Thema setzt, macht sie klar, dass dieses Thema so selbstverständlich nicht ist.“, schrieb Renate Klett in Theater heute.
„People aren’t evil and people aren’t good. They live how they can one day at a time. They come out of dust they go back to dust, dusty feet, no wings, and whose fault is that?
Zitat von Caryl Churchill (2008) aus “Plays Four”
In den 1980igern nahm sie den Finanzkapitalismus am Beispiel von London aufs Korn. Aber egal, was auch immer sie in ihren zahlreichen Stücken umtreibt, immer handelt es sich um Machtstrukturen, die sie schonungslos enthüllt und aufzeigt.
Seit Ende der 1990er-Jahre interessiert sie sich vor allem für Osteuropa.
Zu ihren bekanntesten und wichtigsten Werken gehören Cloud 9 (1979), das imperialistisches Denken untersucht, Top Girls (1982) über Frauen in einer Männerwelt, A mouthful of birds (1986), in dem sie zum ersten Mal Sprech- mit Tanztheater verbindet, das Versdrama Seroius Money (1987), Blue Heart (1997), A number (2002) über Fragen des Klonens und der menschlichen Identität. Love and Information (2012) und Ding Dong the Wicked (2013) befassen sich mit grundsätzlichen menschlichen Fragen.
Jedes ihrer rund 40 Stücke ist eine Herausforderung und eine kreative Weiterentwicklung. In der großen Tradition englischsprachiger Literatur schrieb sie scharf exponierte Dialoge genauso wie lautmalerische Textflächen. Ihre Stücke haben surreale, aber auch realistische Züge.
Und noch ist längst nicht Schluss. Caryl Churchill ist bis heute produktiv. Neben der intensiven Zusammenarbeit mit dem Tanztheater, das auf zahlreiche auch kontinentaleuropäische Theatermacher:innen inspirierend wirkte, hat sie mehrfach für Musiktheaterproduktionen gearbeitet.
Mit ihrem formal und inhaltlich anspruchsvollen Werk fordert Caryl Churchill Kritik und Publikum immer wieder heraus. Gratulation von arsmondo an eine der wichtigsten feministische Gegenwartdramatikerinnen, die theatralische Konventionen radikal gesprengt und ganze Generationen geprägt hat.
Und noch: Den Europäische Nachwuchsdramatiker:innen Preises 2022 erhält die junge und vielversprechende ukrainische Dramatikerin Lena Lagushonkova. Ihr Debüt gelang ihr im Jahr 2018 mit ihrem Stück BAZA über Frauen und Prostitution im Rahmen des Festivals Week of Current Art. Ihr bisheriges Werk umfasst acht Stücke und in naher Zukunft möchte sie über Luhansk schreiben, wo sie sieben Jahre lang studiert und gelebt hat.
Die Preisverleihungen und findet am Wochenende vom 18. bis 20. November 2022 im Schauspielhaus der Stuttgarter Staatstheater statt. Das Programm und weitere Informationen: www.schauspiel-stuttgart.de
Caryl Churchill, 1938 in London geboren, studierte in Oxford englische Literatur und begann früh mit dem Schreiben, anfangs für Radio und Fernsehen, dann zunehmend für die Bühne. 1974 wurde sie als erste Frau Hausautorin am Londoner Royal Court Theatre, wo ihr 1979 mit Siebter Himmel der endgültige Durchbruch gelang. Mit ihrem Werk, das theatralische Konventionen sprengt und für das sie vielfach ausgezeichnet wurde (u. a. mit dem Olivier Award und der Aufnahme in die American Theatre Hall of Fame), hat sie ganze Generationen geprägt. Zu ihren bekanntesten Stücken gehören Top Girls (1982), Serious Money (1987), In weiter Ferne (2001), Die Kopien (2002) und Liebe und Information (2012). Ihr Werk wurde bisher in fast 40 Sprachen übersetzt und wird rund um den Globus gespielt. In den letzten Jahren wandte sich Caryl Churchill dem Bereich Musik und Tanz zu und arbeitete mit Musiker:innen und Choreograph:innen zusammen.
Der Europäischen Dramatiker:innen Preis würdigt europäische Dramatiker:innen für ihr herausragendes Gesamtwerk. Er nimmt die dramatische Kunst in Europa in all ihrer Vielfalt in den Blick und versteht sie als verbindendes Element zwischen den europäischen Kulturen. Der hochdotierte Preis wird alle zwei Jahre vom Schauspiel Stuttgart vergeben und vom Kunstministerium Baden-Württemberg gefördert. Winfried Kretschmann, Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg ist Schirmherr der Auszeichnung. Erster Preisträger im Jahr 2020 war der in Frankreich lebende Dramatiker, Regisseur, Schauspieler und Theaterleiter Wajdi Mouawad.