Musiktheater für die
Generation Netflix

Unter dem Dach des jährlich Anfang Februar stattfindenden Neue-Musik-Festivals Eclat ist der Kompositionspreis der Landeshauptstadt Stuttgart eine der tragenden Säulen des international renommierten Schaufensters für zeitgenössische Musik. 1955 erstmals vergeben, wurde die Auszeichnung mit Preisverleihung und Preisträgerkonzerten 1997 in das Festivalprogramm integriert. Der älteste Förderpreis der Stadt Stuttgart spiegelt die stilistische Entwicklung der Neuen Musik in Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wider, mit Helmut Lachenmann, Wolfgang Rihm, Adriana Hölszky und Enno Poppe findet sich manch klangvoller Name in der Reihe bisheriger Preisträger.

Den 67. Kompositionspreis der Landeshauptstadt Stuttgart teilen sich drei junge Komponisten, die bereits mehrfach für ihr Werk ausgezeichnet wurden. Wie im Vorjahr sprach die Jury sich dafür aus, zwei zweite Preise zu vergeben, um „die hohe Qualität der (…) eingereichten Werke“ zu unterstreichen. 87 Teilnehmer hatten insgesamt 153 Werke eingereicht. Stimmgabeln und Superball zur Manipulation der Saitenklänge sind ständige Requisiten der vier Gitarristen in Andrés Nuño de Buens „Leve“.

Andrés Nuño de Buen © Daniela Tablada Garibay

1988 in Mexiko-Stadt geboren, hat der Komponist, dem der mit 8000 Euro dotierte erste Preis zuerkannt wurde, zuletzt an der Hochschule für Musik Karlsruhe bei Wolfgang Rihm und Markus Hechtle studiert. Sein 2021 vom Aleph Gitarrenquartett beim ZeitGenuss Festival ebendort uraufgeführtes, rund 20-minütiges Werk setzt auf kammermusikalisch reduzierte Klangwirkung. Isolierte Aktionen werden konzertiert, meist bei geringer Lautstärke – dadurch baut sich eine nicht unerhebliche Spannung auf, die sich sporadisch in jähen Forti-Synkopen entlädt. Dabei verweigert „Leve“ sich einer klassischen Steigerungsdramaturgie und klingt stattdessen mit einem langen Piano-Pianissimo-Drome ins Niente aus, wobei die rein akustisch erzeugte Musik den schwebenden, surrealen Klangwelten elektronischer Pendants erstaunlich nahekommt.

Davor Vincze © Andrew Watts

Den mit jeweils 4000 Euro dotierten zweiten Preis teilen sich Rama Gottfried und Davor Vincze. „Scenes from the Plastisphere“ von Rama Gottfried nimmt sich der beunruhigenden, im Mikroplastik-Zeitalter allerdings bereits nahezu realisierten Vorstellung eines Ökosystems an, in dem Kunststoffe Teil der organischen Zirkulation werden. Die 2018 vom ensemble mosaik uraufgeführte Komposition für fünf Performer und „Video-Puppetry-Instrument“ ist ein Musterbeispiel für die an der Schnittstelle von Klangkunst, Installation und Performance angesiedelten Arbeit des 1977 in New York geborenen Komponisten, der als Artist-in-Residence bereits am renommierten IRCAM in Paris sowie am Karlsruher ZKM eingeladen war und Lehraufträgen in Hamburg und Dresden nachkommt. Was zwei der Performer mit ihren Feder- und Papierkreaturen darstellen, wird von einem dritten ausgeleuchtet, gefilmt und auf eine Leinwand projiziert, wobei die verfremdeten Aufnahmen wiederum durch ein Computerprogramm in Echtzeit in störgeräuschartige elektronische Soundereignisse übersetzt werden. Der Clou ist eine Klimax, in der sich die Leinwand in ein fliegendes Tüllgeschöpf zu verwandeln scheint, das in der Luft schwebt, bis eine große Discokugel den Raum in einen Sternenhimmel verwandelt.

Rama Gottfried © Künstler

Musiktheater neuer Art ist auch Davor Vinczes „XinSheng“: Die Kurzoper für Sopran, Ensemble und Elektronik wurde in Berlin vom Decoder Ensemble performt, von Heinrich Horwitz mit der Kamera eingefangen und 2021 in Zagreb uraufgeführt, wo der in Graz, Stuttgart, Paris und Stanford ausgebildete Komponist 1983 geboren wurde. Das Libretto von Aleksandar Hut Kono skizziert eine Dreiecksbeziehung zwischen dem Boxer Andrei, dessen Trainerin Fan und der Chirurgin Anne, die den bei einem illegalen Kampf schwer Verletzten retten soll. Fan verlangt von Anne, ein noch im Versuchsstadium befindliches Medikament einzusetzen, um Andreis Überlebenschance in der Notoperation zu erhöhen. Doch es drohen schwere Nebenwirkungen. Annes zentrale Arie, in der sie Fan ihre Liebe gesteht und deren berechnendes Verhalten anklagt, während sie den Boxer zunäht, geht buchstäblich unter die Haut. In harten Schnitten werden Erinnerungen an Zärtlichkeiten mit Gewalt-Szenen konfrontiert. Die 20-minütige „Kammeroper“ des Kroaten ist alles andere als leichte Kost: Ihre Erzähltechnik beruht auf Auslassungen und Implikationen. Doch sowohl die Industrial-Soundästhetik als auch die vehement-assoziative Bildsprache dürften sich als Versuch verstehen, der Generation Netflix Zugänge zum Musiktheater zu eröffnen.
Text: Harry Schmidt

Das Preisträgerkonzert zum Kompositionspreis der Landeshauptstadt Stuttgart 2022 findet im Rahmen des Neue-Musik-Festivals Eclat am 5. Februar im Theaterhaus statt.
Infos & Tickets: www.eclat.org

Schreiben Sie einen Kommentar