«Glaubst du, das ist eine tote Nutte? Atmet sie noch?» «Natürlich atmet sie noch. Wenn du mal die Klappe hältst, hörst du sogar, wie sie schnarcht. Das ist übrigens meine Mutter.» – Was für ein krasser Anfang! Und das aus der Feder einer Autorin, die 2001 mit Lyrik debütierte und für ihren feinsinnigen, poetischen Ton berühmt ist. Direkter und härter als mit dieser Szene hätte Silke Scheuermann, geboren 1973 in Karlsruhe, ihre Leser und Leserinnen wohl kaum in die düstere Welt ihres Protagonisten Marten einführen können. «Wovon wir lebten“, erschienen 2016, ist bereits ihr vierter Roman und untermauert erneut, dass in den Romanen der vielfach ausgezeichneten Lyrikerin ein völlig anderer Ton als in ihren Gedichten vorherrscht.
Scheuermann beobachtet genau und ist unglaublich gut darin, anschaulich und präzise ganz verschiedene Welten zu schildern: vom Drogenmilieu über die industrielle Arbeitswelt bis hin zur Koch- und Kunstszene. In den unterschiedlichsten Tonlagen, mal beißend ironisch, mal subtil feinsinnig, gelingt es ihr, Empathie für ihre Protagonisten zu erzeugen. Die Figuren und ihre Schicksale gestaltet sie nahezu sezierend psychologisch. Für reine «Typen» interessiert sich Scheuermann nicht. «Jedes Buch ist für mich sowohl eine direkte Auseinandersetzung mit Figuren meiner Lektüre wie auch mit der Wirklichkeit», so die Autorin. In «Shanghai Performance» waren das die internationale Kunstszene, die Shanghaier Galerie-Szene und «Der große Gatsby» von F. Scott Fitzgerald; in «Die Häuser der anderen» das abweisende, fiktive Szenario einer Frankfurter Nobelstraße und «Mr. und Mrs. Derdon» von Maeve Brennan, die zahlreiche Erzählungen für den New Yorker schrieb. Wobei: «Die Straße Kuhlmühlgraben gibt es in Offenbach tatsächlich, da gehe ich oft mit meinem Hund spazieren. Bei solchen Spaziergängen kommt man ins Gespräch mit Leuten aus allen sozialen Schichten, schnappt irre Details auf, Alltagsfabeln, kleine Sorgen, die ganzen Wunsch- und Albtraumschlösser unserer Alltagsexistenz», gibt die Autorin zu.
Als Scheuermann „Wovon wir lebten“ anging, hatte sie Charles Dickens‘ Entwicklungsroman «Great Expectations» im Hinterkopf. Verblüfft müssen die Leser bei der Lektüre jedoch feststellen, dass ausgerechnet der Hauptfigur Marten die für das Genre typische, selbstkritische Reflexion total abgeht. Vielmehr ist er sogar überrascht ob der allmählichen Veränderung seiner Persönlichkeit und erkennt: „Manchmal stehe ich in der Küche und denke, dass ich gar nicht weiß, wie sich ein normaler Mensch benimmt.» Während die Helden klassischer Entwicklungs- und Bildungsromane ihre Persönlichkeit durch Reisen bilden und vervollkommnen, übt Marten die radikale Neuerfindung seines Charakters durch das Ausprobieren neuer Gerichte wie Pfeffer-Tunfisch auf Glasnudel-Krautsalat, Jakobsmuscheln mit Orangen-Chili-Butter oder Poulardenbrust auf Kartoffel-Karottentopf mit Portweinjus.
Auch Form und Formulierungen passt Silke Scheuermann kunstfertig und zwingend dem jeweiligen Schauplatz und gesellschaftlichen Umfeld ihrer Romane an. Während die Autorin beispielsweise in „Die Häuser der anderen“ den Wechsel der Erzählperspektive als strategisch wichtiges Prinzip nutzte, erzählt Martens seine Geschichte selbst – eben aus der Ich-Perspektive. Mit dieser überraschenden literarischen Strategie gelingt es Silke Scheuermann die Entwicklungskonsequenzen, gemäß seiner inneren Logik, plausibel darzulegen.
Aber keine Sorge: Scheuermann wäre nicht Scheuermann, wenn sie nicht auch in dieser knallharten Geschichte voller Gewalt, Exzessen und quälerischer Unterwerfung Szenen einschieben würde, die von der Stimmung leben und den feinsinnigen, poetischen Ton ihrer Sprache zum klingen brächten.
Die Autorin
Silke Scheuermann, geboren 1973 in Karlsruhe, lebt seit vielen Jahren im Rhein-Main-Gebiet – bis 2008 in Frankfurt und seither in der Nachbarstadt Offenbach.
Nach dem Abitur studierte sie Theater- und Literaturwissenschaft in Frankfurt a. M., Leipzig und Paris. Sie verfasst Lyrik und Prosa, die in zahlreichen Anthologien und Literaturzeitschriften veröffentlicht wurde. Die Autorin debütierte 2001 mit dem Lyrikband «Der Tag an dem die Möwen zweistimmig sangen». 2007 erschien ihr erster Roman «Die Stunde zwischen Hund und Wolf», für den sie mit dem Förderpreis zum Grimmelshausen-Preis ausgezeichnet wurde. 2007 nahm sie am Klagenfurter Wettlesen um den Ingeborg-Bachmann-Preis teil. Neben zahlreichen Auszeichnungen und Stipendien folgte 2004 das der Kunststiftung Baden-Württemberg, 2009 Villa Massimo in Rom, 2012 Goethe-Institut Villa Kamogawa in Kyoto (Japan), 2014 der Hölty-Preis für ihr lyrisches Werk sowie 2016 Bertolt-Brecht- und Robert-Gernhardt-Preis. Unlängst im Mai 2017 erhielt Silke Scheuermann für ihr literarisches Gesamtwerk unter besonderer Berücksichtigung ihres Romans «Wovon wir lebten» den Georg-Christoph-Lichtenberg-Preis für Literatur des Landkreises Darmstadt-Dieburg.
Außerdem ist Scheuermann Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland, hatte im Wintersemester 2012/2013 die Poetikdozentur junge Autoren der Hochschule RheinMain in Wiesbaden inne und verfasst regelmäßig die Kolumne «Lyrischer Moment» in der Literaturzeitschrift «Volltext».
Das Buch
Große Erwartungen an das Leben hat Marten nicht. Er stammt aus einem problematischen Elternhaus und wächst in einem Umfeld auf, das von illegalen Geschäften, Schlägereien und Sex beherrscht wird. Beim Drogenentzug trifft er Peter, einen ehemaligen Restaurant- und Clubbesitzer. Peter entdeckt Martens Talent zum Kochen.
Als die beiden gemeinsam das Edellokal Happy Rabbit eröffnen, kommt es zu einem Wiedersehen mit Martens Jugendliebe Stella, die ihre Bilder in der Galerie des Restaurants ausstellen soll. Von einer reichen Tante großgezogen, scheint sie ihm unerreichbar. Jetzt aber drehen sich die Vorzeichen um: Während Stella um Anerkennung für ihre Kunst kämpfen muss, avanciert Marten zum angesagten Fernsehkoch. Doch das kriminelle Milieu droht ihn wieder einzuholen.
Eindringlich und authentisch erzählt Silke Scheuermann von fragilen Lebensträumen. Ihr packender Entwicklungsroman führt unerschrocken in menschliche Abgründe. Doch „Wovon wir lebten“ ist auch eine Liebesgeschichte, in der sich am Ende unerwartete Zusammenhänge aufdecken.
Silke Scheuermann
Wovon wir lebten
Schöffling & Co.
ISBN: 978-3-89561-378-4
24,00 €