Die Macht des Worts

Kaum eine andere Kunstsparte vermag es direkter und unmittelbarer, in Dialog mit seinem Publikum zu treten. Ihre Protagonisten und Akteure beobachten und sezieren gesellschaftliche Strömungen und Entwicklungen und gehen ihnen mit künstlerischen Mitteln auf den Grund. Der Vorhang hebt sich und auf den Brettern, die die Welt bedeuten, entfalten sich Vergangenheit, Gegenwart, Visionen der Zukunft oder phantastische Szenen. Opulente Bühnenarchitektur, Licht- und Technikspektakel oder auch einfach nur eine blanke Bühne – das Nichts – markieren den szenischen Rahmen. „Ihr wisst, auf unseren Bühnen probiert ein jeder, was er mag!“ konstatierte schon Goethe. Auf den folgenden Seiten begeben wir uns auf einen kleinen Exkurs durch die wechselvolle Geschichte des Theaters.

Selbst wenn gesellschaftliche Diskurse heute vorrangig in anderen Medien geführt werden, bedeutet Theater auch weiterhin Sehen lernen: die Differenz von Sein und Erscheinung eines Vorgangs zu erkennen und gleichsam zu überwinden, Konkretes im Abstrakten und Abstraktes im Konkreten zu erblicken.

Unser Leben ist ein Rollenspiel – mal Lustspiel, mal Drama, mal Komödie, mal Tragödie. So sind es denn auch spontane Lebensäußerungen, die sich über die Jahrhunderte zu einer Kunst entwickelt haben, über die nachgedacht, die in Theorien gefasst, über die geforscht und geschrieben wurde – das Theater. Shakespeare, Molière und Lessing, Ibsen, Strindberg und Tschechow, Ionesco, Beckett und Brecht, Sartre, Dürrenmatt und Bernhard, Piscator, Peymann und Castorf, Iffland, Minetti und Herdeegen – sie alle und die zahllosen nicht Genannten haben das Theater geprägt, weiterentwickelt und verändert.
Historisch hat das Theater religiös-kultische Wurzeln. Am Anfang steht der Dionysoskult. Doch bereits hier im antiken Athen grenzten sich die Künstler von Priestern und Politikern ab, stellten mit Theatermitteln die existierenden Götter-, Welt- und Menschenbilder dar. Sie stellten in erster Linie Fragen, Antworten geben wollten sie nicht unbedingt.
Die Geburt der Tragödie ist aufs engste mit dem griechischen Dichter Aischylos verbunden. Er stellte dem ersten Schauspieler, dem Protagonisten, einen zweiten (Deuteragonist) als Freund zur Seite und schuf somit die Voraussetzung für den Dialog. Sophokles schließlich führte mit dem dritten Schauspieler den für ein echtes Drama notwendigen Gegenspieler ein. Zur Szenerie gehörte als wesentlicher Bestandteil neben diesen dreien, die oft in verschiedenen Rollen und Maskierungen agierten, der Chor. Die Römer übernahmen die griechische Theaterkultur. Das Mittelalter ist durch Passions- und Mirakelspiele gekennzeichnet, die Inhalte aus der Bibel und aus dem Leben der Heiligen in Szene setzten. Gegen Ende der Epoche wurden auch Fastnachtsspiele und in England Morality Plays, deren Einfluss auf die Theaterkultur der Neuzeit ungebrochen ist, beliebt.
Die Renaissance vereinte die alten Mysterienspiele mit den wiederentdeckten klassischen Tragödien und Komödien.
Mit dem Sieg des Absolutismus über den Feudalismus wurden die Inszenierungen aufwendiger. Als Ab- und Sinnbild der Welt spielte der Gegensatz von Schein und Sein eine wichtige Rolle. Im 18. Jahrhundert wurde „spielen“ auch ganz gerne mit „lügen“ gleichgesetzt. Die theatralische Vielfalt nahm ständig zu, sodass im 19. Jahrhundert eine Trennung in vier Sparten – Sprech-, Musik-, Tanz- und Figurentheater – sinnvoll wurde.
Im 20. Jahrhundert vollziehen sich Entwicklungen und Veränderungen, inklusive neuer Theorien, die für das Theater in vielfacher Hinsicht Umbrüche brachten: In den 10er- und 20er-Jahren experimentierte die Avantgarde mit neuen Theaterformen, die den multimedialen Charakter des Theaters als Verbund von Raum, Bühne, Licht, Kostüm, Schauspielerkörper und -stimme durch neue Konstellationen und Bewertungen veränderten. Die klassische Guckkastenbühne wurde gesprengt und machte verschiedenen Konzepten der Zusammenführung von Zuschauerraum und Bühne Platz. Der öffentliche Raum wurde als Theaterort entdeckt, das neue Medium Film in die Theaterkonzeption integriert. In der sozialen und politischen Aufbruchsstimmung der 60er-Jahre entwickelte sich das Theater zu einem Ort der Experimente für verschiedenste künstlerische Strömungen: Happening- und Performancekunst, Straßen- und interventionistisches Theater etc. Das 21. Jahrhundert knüpft an, schöpft aus dem ungeheuren Fundus der Theatergeschichte und versucht, das reale Theatergeschehen u. a. durch Dokumentartheater gegenüber dem allgemeinen Medienoverkill zu behaupten.

Theater ist ein ganzheitliches, plurimediales Ereignis, spricht den menschlichen Geist an und wirkt bis ins Unterbewusste. Die Zuschauer können erkennen und Neues entdecken. Ein Bühnengeschehen kann bestäigen oder konterkarieren, kann neue Perspektiven eröffnen, den Blick für Alternativen schärfen.

Als Kunstsparte ist das Theater frei. Es kann religiös, gesellschaftskritisch, politisch oder auch nur ästhetisch motiviert sein. Aufgrund der kollektiven Rezeption und des Live-Charakters, also dem transitorischen Element des Aufführens, ist es eng mit der realen Gesellschaft verbunden. Die Diskussion von Gesellschaft als Spiel auf der Bühne ist daher nahe liegend und hat zu allen Zeiten und in unterschiedlicher Ausprägung überall auf der Welt stattgefunden. Das Theater ist folglich ein Ort für das vergangene, gegenwärtige, zukünftige oder utopische Leben, ein Spiegel der Wirklichkeit, gesellschaftlicher Strömungen und Entwicklungen, erzählt von und über den Menschen, präsentiert „Wahrheiten“ rund um unser Menschsein. Das Theater kann als bloße Unterhaltung dienen, die den Zuschauer unverändert in die Realität entlässt; es kann das Publikum aber auch zwingen teilzunehmen und im Einzelnen ein Mit-Fühlen auslösen oder ihm ein Weiter-Denken abverlangen.
Man könnte einwenden, dass es sich mit Kino oder Fernsehen ebenso verhält. Doch das Theater funktioniert und wirkt anders: Egal ob auf der Bühne oder im öffentlichen Raum, inneres und äußeres Geschehen werden durch Schauspieler aus Fleisch und Blut transportiert und vermittelt. Außerdem braucht das Theater das Publikum. Erst in der Kommunikation und Interaktion zwischen den Schauspielern und dem Auditorium kann die Macht der Darstellung und die des Wortes ihre Kraft entfalten – wobei sich das Bild der Geste und vor allem dem gesprochenen Wort unterordnet. Dialoge, Monologe – die Sprache, auch im Nichtgesagten, hält alles Handeln zusammen. Erst durch die Bühne, wie auch immer beschaffen, kann sich die Dramatik einer Dichtung erweisen. Erst hier vollendet sich das Werk, genau wie sich das Theater erst durch das Wort des Dichters in seiner ganzen Weite menschlichen Fühlens und Denkens aufschließt. Vergangenheit, Zukunft und verdichtete Realität werden durch das gesprochene Wort der Akteure für den Moment wahrhaftig. Theater vermag es, innere Regungen im Menschen für den Zuschauer erfahrbar zu machen. „Theater ist die tätige Reflexion des Menschen über sich selbst“, stellte der Dichter Novalis fest.
Erst die Wechselwirkungen zwischen der sich ständig erneuernden Kraft der Dichtung, der immer neue Ausdrucksformen suchenden schöpferischen Leidenschaft des Theaters und der Interaktion mit dem Publikum bewerkstelligen es, das dramatische Kunstwerk Theater auch heute mit Leben zu füllen.
Theater ist ein ganzheitliches, plurimediales Ereignis, spricht den menschlichen Geist an und wirkt bis ins Unterbewusste. Die Zuschauer können erkennen und Neues entdecken. Ein Bühnengeschehen kann bestätigen oder konterkarieren, kann neue Perspektiven eröffnen, den Blick fuür Alternativen schärfen.
Selbst wenn gesellschaftliche Diskurse heute vorrangig in anderen Medien geführt werden, bedeutet Theater auch weiterhin Sehen lernen: die Differenz von Sein und Erscheinung eines Vorgangs zu erkennen und gleichsam zu überwinden, Konkretes im Abstrakten und Abstraktes im Konkreten zu erblicken. Theater ist der Prozess, in dem Abstraktes konkretisiert werden kann; es ist der Vorgang etwas Entleibtes zu beleben, indem dem Abstrakten ein Körper und Gesicht gegeben werden; eine konkrete, eine persönliche Beziehung kann entstehen.
In einer Zeit, in der das Leben virtuellen Abstrahierungsprozessen unterworfen ist, in der es keine Körper, keine Räume gibt, handelt es sich bei diesem schlichten Vorgang um ein politisches, gesellschaftliches und humanistisches Statement. So gesehen, fungiert Theater heute als Medium, das einer abstrakten virtuellen Welt, eine konkrete Echtheit, einen konkreten Raum, konkrete Koörper, konkrete Sinnlichkeit und konkrete Selbst- und Fremdwahrnehmung entgegensetzen kann.
Auch wenn in regelmäßigen Abständen die Krise oder sogar das Ende des Theaters beklagt wird, besteht kein Grund zur Sorge. Intendanten, Dramatiker, Regisseure und Schauspieler vermögen es noch immer, das Theater mit Leben zu füllen.

Autor: Susanne Heeber