Ein Stück schwäbisches Kulturgut – Das Cannstatter Volksfest

Ein Fest der Sinne, der Tradition und der Lebensfreude. Von historischen Wurzeln zum modernen Kulturerlebnis. Eine Hommage.

Es gibt Feste, die sind einfach mehr als nur ein paar Tage Ausnahmezustand. Das Cannstatter Volksfest auf dem Stuttgarter Wasen ist eines davon – ein lebendiges Stück Geschichte, das sich Jahr für Jahr neu erfindet und dabei seine Seele bewahrt. Wer Anfang Herbst über das Festgelände schlendert, spürt hautnah, was es bedeutet, wenn Vergangenheit auf Gegenwart trifft, wenn Brauchtum auf Moderne und schwäbische Gemütlichkeit auf ausgelassene Lebensfreude stößt.

Cannstatter Volksfest mit Neckarblick (c) adobe stock

Die Wurzeln dieses einzigartigen Fests reichen zurück bis ins Jahr 1818, als ein Vulkanausbruch in weiter Ferne die hiesige Landwirtschaft ins Wanken brachte und König Wilhelm I. ein Fest als Zeichen des Aufbruchs ins Leben rief. Was damals als Erntedank und Mutmacher begann, ist heute ein spektakuläres Ereignis, das Millionen Menschen nach Stuttgart lockt und längst zu einem kulturellen Aushängeschild der Region geworden ist.

Schon beim Betreten des Wasens ist man gefangen vom bunten Treiben: Das Riesenrad dreht majestätisch seine Runden, Lichterketten glitzern im Herbsthimmel, und ein Meer aus Düften – von gebrannten Mandeln über Brathendl bis hin zu feinem Zwiebelkuchen – umschmeichelt die Sinne. Überall locken Fahrgeschäfte, von nostalgischen Karussells bis hin zu waghalsigen Attraktionen, die Mutige in die Lüfte katapultieren. Und dazwischen: die typischen kleinen Buden am Rand, die an die eigene Kindheit erinnern und mit ihrem nostalgischen Charme Geschichten von Generation zu Generation weitergeben.

Impression vom Cannstatter Volksfest  (Foto: Tom Weller / 24passion)

Doch das Volksfest ist mehr als Kirmes – es ist ein Kaleidoskop menschlicher Begegnungen. Junge und Alte, Familien, Freundesgruppen, Schaulustige aus allen Ecken Europas, sie alle feiern gemeinsam. In den Festzelten pulsiert das Leben: Helle, großzügige Räume, geschmückt mit Blumen, Holz und Karomustern. Hier wird geschunkelt, gelacht, gesungen und getanzt – und das nicht mehr in dunklen, verrauchten Zelten wie einst, sondern in einladender, moderner Atmosphäre, in der jeder willkommen ist.

Für mich als passionierte Beobachterin und Kulturjournalistin ist der Wasen jedes Jahr ein Pflichttermin – nicht, weil ich es muss, sondern weil ich es will. Es ist die Neugier, die mich antreibt: Wie verändert sich das Fest? Welche Gesichter tauchen auf? Was macht den Zauber dieser Tage aus? Es sind die kleinen Szenen am Rand, die mich faszinieren: Familien, die sich vor dem Riesenrad umarmen, Freundesgruppen, die in Lederhosen und Dirndl den Alltag vergessen, und die strahlenden Augen der Kinder, wenn sie das erste Mal im Karussell sitzen. Man kommt ins Gespräch, begegnet Superchic und Superwichtig ebenso wie „ganz normalen“ Leuten. Hier zählt nur der Moment, das gemeinsame Erleben.
Und gerade in Zeiten, in denen die Welt draußen oft beängstigend wirkt, ist dieser Ort ein Refugium – eine Einladung, die Sorgen für eine Weile hinter sich zu lassen und sich einfach dem Genuss, der Gemeinschaft und der Lebensfreude hinzugeben. Brot und Spiele – oder besser gesagt: Brezel und Musik, dazu ein frisch gezapftes Bier.

Fahrgeschäfte auf dem Cannstatter Wasen (c) adobe stock

Wer den Wasen mit offenen Augen besucht, erlebt eine faszinierende Mischung aus beharrlicher Tradition und kreativer Erneuerung. Festzelte, einst einfache Unterstände, sind heute architektonische Meisterwerke, jedes mit seinem unverwechselbaren Charakter. Logen, Bars, Nischen und liebevoll dekorierte Sitzbereiche ergeben eine Vielfalt, die für jeden Geschmack etwas bereithält. Jeder Zeltbetreiber pflegt sein eigenes Profil, setzt auf namhafte Bands, Solokünstler oder DJs, um das Publikum zu begeistern. Und wer einen Platz im Zelt ergattern will, muss längst rechtzeitig reservieren – so groß ist die Nachfrage.
Gleichzeitig finden sich am Rand des lauten Trubels stille Oasen, an denen man die Seele baumeln lassen kann. Es ist diese Mischung aus laut und leise, aus Spektakel und Rückzugsort, die das Cannstatter Volksfest zu etwas ganz Besonderem macht.

Das Fest war und ist ein Quell der Inspiration – nicht nur für Besucher, sondern auch für Künstler, Literaten und Fotografen. Das bunte Treiben, die Lichter, die Gesichter, all das hat schon Maler wie Max Beckmann oder Schriftsteller zu Geschichten und Gemälden inspiriert. Hier lebt die Volkskultur, hier wird Heimat sichtbar, ohne angestaubt zu wirken. Es ist ein Spiegel der Gesellschaft – ein Ort, an dem sich Menschen aller Couleur treffen, wo Lebensfreude, Tradition und Moderne einander die Hand reichen.

Natürlich wäre all das nicht möglich ohne die sorgfältige Organisation und die Menschen, die hinter den Kulissen für Sicherheit und Ordnung sorgen. Polizisten und Security-Teams sind dezent, aber präsent und tragen dazu bei, dass das Fest heute als sicher gilt, sodass sich Besucher entspannt auf das Vergnügen konzentrieren können. Das Geheimnis des Cannstatter Volksfests liegt für mich in seiner einzigartigen Mischung: Hier werden Tradition und Innovation, ausgelassene Freude und kulturelle Tiefe, große Emotionen und kleine Glücksmomente zu einem Fest verwoben, das seinesgleichen sucht. Es ist ein Ort, an dem man einfach mal „Mensch“ sein darf, an dem Sorgen und Alltag für einen kurzen Moment Pause machen. Wer das Leben feiern will, wer neugierig auf Menschen und Geschichten ist, für den ist der Wasen ein Muss – Jahr für Jahr aufs Neue.
Ein Beitrag von Claudia Fenkart

Die aktuelle Fruchtsäule stammt aus dem Jahr 1972, misst 26 Meter in der Höhe und basiert auf einem historischen Vorbild. Auf der Spitze befinden sich seit 1976 vier stilisierte Pferde als Wappentier Stuttgarts. Für das 172. Volksfest 2017 wurden diese erneuert. In jüngerer Vergangenheit wurden Sockel und Gestaltung der Fruchtsäule modifiziert, etwa durch die Integration regionaler Produkte und Handwerksgeräte. Girlanden und eine rot glänzende Banderole runden das Erscheinungsbild ab. Während die Fruchtsäule früher jedes Jahr abgebaut wurde, verbleibt mittlerweile der Unterbau ganzjährig vor Ort. Foto (c) adobe stock
Cannstatter Volksfest, Festumzug Eröffnung (Foto: Tom Weller / 24passion)
Die Geschichte des Cannstatter Volksfestes
Stuttgart – Das „Landwirthschaftliche Fest zu Kannstadt“ fand erstmals 1818 statt. Der Name verweist auf die ursprüngliche Ausrichtung des Festes. Im Jahr 1815 führte ein Vulkanausbruch des Tambora auf der Insel Sumbawa zu globalen Klimaveränderungen, wodurch in Europa kühle Sommer und Ernteausfälle auch das Königreich Württemberg trafen. Nach den Hungerjahren initiierte König Wilhelm I., gemeinsam mit Katharina, die „Centralstelle des landwirtschaftlichen Vereins“, um die Landwirtschaft weiterzuentwickeln und den Austausch unter Landwirten zu fördern. Als Ausdruck von Dank wurde zudem ein Fest gestiftet.
Ursprünglich wurde das Volksfest also als Erntedankveranstaltung durchgeführt. Heute findet parallel dazu das Landwirtschaftliche Hauptfest statt, eine große Ausstellung für Agrarwirtschaft, welche die Gründungsidee fortsetzt.
Am 28. September 1818 eröffnete das Cannstatter Volksfest erstmals auf dem Wasen, einer damals unbebauten Neckaraue bei Stuttgart. Und seit damals ist der Cannstatter Wasen auch der Austragungsort für die große Festlichkeit. Dieser war damals eine idyllische, wohl auch etwas feuchte Neckaraue ohne umgebende Bebauung, zwischen Wiesen und Weinbergen am noch nicht aufgestauten Neckar gelegen. In Sichtweite lag die königliche Villa Bellevue an der Wilhelma, dem einzigen zoologisch-botanischen Garten in Deutschland. Ein kurzer Anfahrtsweg mit der Kutsche also für den Stifter des Festes, der es sich nicht nehmen ließ, dieses feierlich zu eröffnen und Zeuge eines erfolgreichen Beginns zu werden. König Wilhelm I. eröffnete das Fest persönlich.
Umzüge haben eine lange Tradition im Rahmen des Volksfestes. Bereits 1841 wurde ein Festzug mit rund 10.000 Teilnehmern und mehr als 100.000 Zuschauern dokumentiert. Der moderne Umzug mit Start am Cannstatter Kursaal fand erstmals 1927 statt; 1911 wurde der erste Autokorso veranstaltet. Schausteller- und Bierausschankbuden wurden ab 1860 erstmals systematisch angeordnet. Von 1882 an fand das Volksfest nur noch alle zwei Jahre statt, eine Regelung, die bis 1891 beibehalten wurde. Weltkriege und andere Unterbrechungen führten insgesamt zu 28 Jahren ohne Fest.

Das Cannstatter Volksfest wurde im Laufe der Zeit fortlaufend erweitert und zählt heute jährlich rund vier Millionen Besucher. Schon früh überstieg die Zahl der Teilnehmenden die Bevölkerung Stuttgarts und Cannstatts. Beim ersten Fest kamen mehr als 30.000 Menschen zusammen. Die Veranstaltungsdauer hat sich seit dem 19. Jahrhundert schrittweise erhöht und beträgt heute 17 Tage. Seit 2007 beginnt das Volksfest bereits am Freitag statt wie zuvor am Samstag. Es ist inzwischen das zweitgrößte Volksfest Deutschlands.
Weithin sichtbares Wahrzeichen – die Fruchtsäule
Die Fruchtsäule ist das Symbol des Cannstatter Volksfestes. Bereits 1818 war eine Säule mit Obst, Getreide und Gemüse Teil des Festes, eine Stiftung von König Wilhelm I., entworfen von Hofbaumeister Nikolaus Friedrich von Thouret. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg wurde sie zunächst nicht mehr aufgestellt, kam aber 1935 zurück. Seitdem ist sie fester Bestandteil des Festplatzes. 
Weitere Informationen:
www.cannstatter-volksfest.de