Über Geschmack lässt sich zwar bekanntlich nicht streiten, aber dafür vortrefflich schreiben. Noch nie konnten sich so viele Menschen wie heute einen eigenen Geschmack leisten. Doch was ist das eigentlich – Geschmack?
Der Mensch hat es bisher nicht geschafft, sich von etwas anderem regieren zu lassen, als vom Geschmack.» Der provokative Satz aus dem Mund des deutschen Künstlersund Enfant Terrible Jonathan Meese hat Schlagkraft und wirft die Frage auf, was Geschmack überhaupt ist? In jedem Fall mehr als nur die Empfindung bei der Nahrungsaufnahme! Im vorindustriellen Zeitalter wurde Geschmack zumeist mit dem eigenen Verstand gleichgesetzt. Dafür stand das lateinische Wort „sapere“, das heute ausschließlich mit Wissen übersetzt wird. Zu finden ist es noch im Savoirvivre, der Lebenskunst, im Sinne des guten, eigenen Geschmacks. Auch für den Aufklärer und Philosophen Immanuel Kant, nachzulesen in „Kritik der Urteilskraft“, waren Geschmack und Verstand gleichbedeutend. Der Geschmack eines Menschen galt damals als die Gesamtsumme dessen, was ihn ausmachte. Es ging nicht darum, so zu sein wie alle anderen oder sich auf Teufel komm raus abzugrenzen. Der Geschmack war nichts weniger als der Mittelpunkt der Vielfalt, der Unterschied schlechthin. Jean- Jacques Rousseau konstatierte: „Der Geschmack besteht in nichts anderem als der Fähigkeit, sich über das, was der großen Masse gefällt oder missfällt, ein eigenes Urteil zu bilden“. Er allerdings setzte den guten Geschmack mit den Sitten gleich, womit ein weiterer Aspekt hinzukommt. Geschmack ist nicht nur eine individuelle Angelegenheit, sondern auch ein Spiegel der Zeit. Was gefällt hat immer auch damit zu tun, was erlaubt ist. Geschmack als Machtinstrument. Mit dieser Erkenntnis wird deutlich, wohin Jonathan Meese mit seiner Aussage zielt. Denn so harmlos Geschmack auf den ersten Blick daherkommt, ist der Geschmacksbegriff beileibe nicht. Er ist Kampfplatz von Ideologien und Kulturen, Schauplatz der Rechthaberei und der ewigen Frage, was wollen wir? Kann und soll jeder nach seiner Fasson glücklich werden? Tatsächlich ist aber nicht der persönliche Geschmack das Problem, sondern die Neigung, subjektive Vorlieben auch allen anderen Menschen aufoktroyieren zu wollen. Und dieser Missionstrieb ist kein Zeichen von Individualismus, sondern ein Erbe der Nivellierung. Wer die Sprache und Vorlieben der Menschen kontrolliert, der hat auch den Rest im Griff: In Diktaturen ist folglich die politisch korrekte
Geschmacks-Gleichschaltung obligatorisch.
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Ein eigener Geschmack, eine differenzierte Urteilsfähigkeit beinhaltet nämlich auch schon immer den Ungehorsam. Wer weiß, was er will, ist nicht für alles, was ihm gesagt wird, zu begeistern. Diese These stammt bereits aus dem 17. Jahrhundert, vom spanischen Aufklärer und Philosophen Baltasar Gracián Morales. Er war der erste, der die Unterdrückung des Individuums durch Geschmacksvorschriften beim Namen nannte. Für den Franzosen Pierre Bourdieu (1930 bis 2002) hat Geschmack dann überhaupt nichts Individuelles und Zweckfremdes mehr, sondern ist immer das Produkt gesellschaftlichen Lernens von Codes und Mustern, die in den unterschiedlichen Klassen herrschen, folglich ein Gesellschaftsinstrument.
Dennoch – in Wirklichkeit hat die Kontrolle über die Vorlieben der Massen und die Normierung nie wirklich funktioniert. Ob es gegen Jazz, Pop, lange Haare oder kurze Röcke ging – am Ende waren die Geschmäcke differenzierter als zuvor, sind und bleiben verschieden. Aber was ist es nun, was den Einzelnen dazu bringt, etwas schön zu finden? Wem gefällt was, und warum? Und – ist Geschmack zu etwas nütze? Der amerikanische Journalist, Blogger und Autor Tom Vanderbilt weist auf die Bedeutung unserer Vorlieben für unser Überleben hin: Unsere wohlwollende oder ablehnende Haltung gegenüber Farben, Formen, Zeichen und Stilen sei nichts weiter als die Erinnerungen an die guten wie schlechten Erfahrungen, mit denen wir sie verbinden. Der Geschmack sortiert folglich unsere guten und schlechten Erfahrungen oder mit den Worten Nicolai Gogols: „Alles hängt vom Geschmack ab und von der Fähigkeit, die Dinge anzuordnen.“
Geschmacksabnutzung als Triebfeder der Künste- Der wichtigste Faktor, der unseren Geschmack bestimmt, ist das Familiaritätsprinzip: das, was wir, wie oft, schon vorher gesehen oder wahrgenommen haben. Es ist die stärkste Determinante des ästhetischen Gefallens. Geschmack ist also vorwiegend ein Produkt unserer eigenen, persönlichen Geschichte. Immanuel Kant nahm an, dass das menschliche Individuum Dinge schön findet, von denen es glaubt, sie passen gut zu ihm – das Harmonieerleben als fundamentale Komponente ästhetischen Empfindens.
Es impliziert eine Bejahung der Schönheit und des Lebens zugleich – vor allem des eigenen. Dieses sehr subjektive Empfinden erklärt auch, warum ästhetischer Geschmack kulturell und individuell so verschieden ist und warum es so schwierig ist, etwas Allgemeingültiges über das ästhetische Empfinden zu sagen. Wer den Versuch dennoch unternimmt, stößt auf das Kriterium der „Prägnanz“: Was auffällt, markant ist, brennt sich in das menschliche Gedächtnis ein. Ebenso gefällt leicht Eingängiges wie beispielsweise Symmetrie. Zu leichte Eingängigkeit allerdings, unterläuft die Erinnerungsfähigkeit: Meint, was uns zu leicht gefällt, vergessen wir auch um so leichter. Normative Attraktivität korreliert negativ mit Distinktion. Interessant auch, dass, sobald man Gründe angeben muss, warum einem etwas gefällt, die Begeisterung entschieden nachlässt. Spontanität – Kant sagt dazu „begriffslos“ – ist für das Gefallen wichtig. Das bedeutet aber auch, dass die ästhetische Komponente des Menschen stark automatisiert zu sein scheint. Geschmack verstehen, bedeutet auf verschiedene Geschmäcke eingehen, auch auf das wichtige Prinzip der Abwechslung. Es ist nämlich eine weitere allgemeingültige Tatsache, dass sich ästhetische Wahrnehmung abnutzt. Haben wir etwas zu oft gesehen oder gehört, gefällt es irgendwann weniger und wir suchen nach einem neuen Reiz. Diese Dynamik ist seit Tausenden von Jahren die treibende Kraft der Künste! Bleibt festzuhalten: Noch nie konnten sich so viele Menschen wie heute einen eigenen Geschmack leisten und es ist kaum zu übersehen, dass Geschmack eine Frage der persönlichen Entscheidung ist. Die Möglichkeit aus einem komplexen Überangebot das für sich Richtige auszuwählen, ist selbstverständlich nicht einfach und verlangt Urteilskraft. Doch schon Baltasar Gracián Morales war der Überzeugung: „Der Geschmack lässt sich ebenso kultivieren wie der Geist“. Kultivieren wir unsere ästhetische Handlungsfähigkeit. Und/oder folgen wir Jonathan Meese: «Wir sollten dafür sorgen, dass uns nicht der Geschmack regiert und beherrscht, sondern etwas Neutrales». Für ihn ist dieses Geschmacksneutrale die Kunst – weil sie passiert, wenn man sie passieren lässt.
Text: Susanne Heeber
Illustrationen: fotolia