Neulich, während einer langen Zugreise, habe ich im Kopf die Stunden abgeschätzt, die ich im Schnitt brauche, bis das Bild eines Künstlers in unserer Sammlung Einzug hält: 105 Stunden. Das hat mich nun doch überrascht; denn ich bin kein Neuling im Bereich des Sammelns. Der Zufall wollte, dass ich, sobald ich als kleines Mädchen die Augen offen hatte, um mich herum Kunst sah: eine Arbeit von Ruprecht Geiger im Esszimmer, ein Fontana und ein Yves Klein im Wohnzimmer und ein Schimmelkopf von Dieter Roth auf einem Sims im Gang. Es vergingen danach viele Jahre, bis ich mein erstes Bild gekauft und die Leitung der elterlichen Sammlung übernommen habe. Bis dahin erlebte ich die Wirren und Wege, die Kehrtwendungen und die Richtungsänderungen, die Erfolge und auch die Missgriffe einer Sammlungstätigkeit hautnah mit.
Umso mehr erstaunt mich, dass ich doch so viel Zeit brauche, bis ich mir sicher bin, dass eine Arbeit oder ein Künstler in die Sammlung passt.
Sicher, seit wir mit unserer Sammlung mit öffentlichen Museen zusammenarbeiten, sammle ich auch immer mit dem Anspruch, dass die Neuerwerbungen einem öffentlichen Museumsraum standhalten und sich behaupten können müssen. So verlängere ich die elterliche Sammlung in ihren Grundpfeilern in die neue Künstlergeneration – besonders auch für meine eigene Sammlung, was eine bewusst auferlegte Fokussierung ist.
Trotzdem kommt mir der Entscheidungsprozess lang vor und deshalb möchte ich ihn hier einmal am Beispiel des Fotografen Wolfgang Tillmans ausführen: Zugegeben, Wolfgang Tillmans ist zurzeit in aller Munde, auch in meinem. Spätestens als er im Jahr 2000 als erster Nicht-Engländer den Turner-Preis erhalten hatte, wurden alle Kunstinteressierten auf ihn aufmerksam. So auch ich. Ich reiste nach England, besuchte seine Turner-Ausstellung (10 Stunden) und war von seiner aufmerksamen Beobachtung der Umwelt fasziniert.
Und da geschah es: Sein Werk hatte mich in seinen Bann geschlagen und den Haben-wollen-Reflex ausgelöst. Doch leider musste ich mir eingestehen, dass Fotografie in eine rein auf Malerei fokussierte Sammlung nicht passte. Ich war und bin noch heute ein strenger Verfechter einer Sammlungsstrategie, die mit einem oder mehreren roten Fäden die Werke zusammenhält und damit der Sammlung ein Profil gibt und sich nicht in eine reine Ansammlung verliert. Unsere Sammlung besteht aus zwei Hauptsträngen: Der eine handelt von der rein gestischen, mit Pinsel und Hand sowie künstlerischer Autorschaft auf Leinwand aufgetragener Malerei (so z. B. Bridget Riley, Albert Oehlen, Joe Bradley) (Foto 1). Der andere Hauptstrang beinhaltet eine neuere Malerei, bei der Hilfsmittel den Pinsel ersetzt haben (Christopher Wool, Michael Riedel, Avery Singer). Ein Nebenstrang in unserer Sammlung sind die wunderbar malerischen Skulpturen von Rebecca Warren und Glenn Brown. Also leider kein Platz für Fotografie!
Aber die Begeisterung blieb und es folgten viele Reisen zu Ausstellungen in seinen Galerien, in den Kunstvereinen und in den Museen (geschätzte 40 Stunden). Zusätzlich kaufte und las ich jeden Katalog und jede Publikation von und über Wolfgang Tillmans (minimum 20 Stunden).
Im Jahr 2005 begann Wolfgang Tillmans mit seiner Lighter-Serie, in der er gefaltetes oder zerknülltes monochromes Fotopapier als Objekt in einen Glaskasten hing. Perfekt! Und perfekt für uns: Die Lighter-Arbeiten verbanden in idealer Weise Skulptur, Malerei und Fotografie. Ich ging zu der Galerie und hörte das Wort, das jedem Sammler das Blut in den Adern gefrieren lässt: Warteliste (Gesprächsdauer 2 Stunden). Ich kontaktierte nacheinander die anderen Galerien und es dauerte fünf Jahre und weitere 13 Stunden, bis ich endlich die Arbeit bekam, die ich mir vorstellte (Foto Danach ging es Schlag auf Schlag. Eine Arbeit von Wade Guyton (Foto 3) verlängerte den Strang der Malerei mit technischen Mitteln, weil er Leinwände durch den Drucker zog, und so machte es auch endlich Sinn, Arbeiten aus der Silver-Serie von Tillmans zu kaufen. In dieser Serie lässt der Künstler Fotopapier durch benutzte Entwicklermaschinen laufen, sodass abstrakte Bilder entstehen, die ganz ohne die gestische Spur der Künstlerhand und ohne eine Fotografie als Basis auskommen.
Vier Jahre später (und weitere 20 Stunden) hatte ich die Arbeiten (Foto 4), die ich unbedingt wollte. Zeit zum Verschnaufen! Der Raum in meinem Kopf ist eingerichtet, die beiden Sammlungsstränge sind zu einem Teppich verwoben. Aber es ist auch noch einiges offen. Dessen Auffüllung wird noch viele weitere Stunden verschlingen – zum Glück.
Carolin Scharpff-Striebich wurde als Tochter des Kunstsammler – Ehepaares Ute und Rudolf Scharpff geboren. Sie wuchs in Stuttgart und Weinheim auf. Seit über zehn Jahren leitet sie die Sammlung ihrer Eltern (Sammlung Scharpff), neben weiteren Privatsammlungen. Durch ihr Mitwirken entstand das sogenannte ‚offene Depot’, in das die Werke der Sammlung integriert sind. Damit wird ausgewählten deutschen Museen ermöglicht, mit den Beständen der Sammlung nach eigenen Vorstellungen und Wünschen auf Basis eines Kooperationsvertrages zu arbeiten. Da eine Sammlung zeitgenössischer Kunst von ihrer Aktualität lebt, setzt Frau Scharpff-Striebich die Tradition mit ihrer eigenen Sammlung fort. Sie ist Mitglied in verschiedenen Gremien internationaler Museen in London und Paris sowie Vorstandsmitglied des Freundeskreises des Kunstmuseums Bonn und des Kunstsammler Vereins in Berlin.