Klang als Naturereignis

Helmut Lachenmann gehört zu den Symbolfiguren des musikalischen Modernismus; seit über 40 Jahren fungiert er mit seiner differenzierten Klangwelt als Vorbild für eine ganze Generation von Komponisten und Kunstschaffenden. Und er hat unsere Hörgewohnheiten und unser Denken über Musik grundlegend verändert.

Wie viele seiner Kompositionskollegen hatte es auch Helmut Lachenmann zunächst nicht leicht, Publikum und Musikwelt für seine innovativen Ideen zu begeistern.
In den 1970er-Jahren wurde er dafür sogar noch heftig angefeindet. „Lachenmanns Kompositionen wurde zu Unrecht immer wieder Kopflastigkeit und Intellektualismus vorgeworfen. Eine solche Kritik übersieht den sensibel- sinnlichen, fast zärtlichen Umgang mit dem Phänomen des Klangs, wodurch sich alle seine Werke auszeichnen“, konstatierte der Komponist Martin Demmler.
Doch die Welt und der Zeitgeist entwickelte sich bis zum Ende des 20. Jahrhunderts rasant weiter und mit ihm auch die Sicht auf und das Bewusstsein für künstlerische Entwicklungen. Das führte zu wachsender Akzeptanz seiner Werke und schließlich zu weltweiten Erfolgen. Bahnbrechend für das zeitgenössische Musiktheater war beispielsweise 1997 die Uraufführung seines Bühnenstücks Das Mädchen mit den Schwefelhölzern an der Hamburgischen Staatsoper, das danach auch in Paris, Stuttgart und Tokio zu erleben war.

Im Zentrum von Lachenmanns Werk steht das Orchester. „Fast die Hälfte seiner Werke schrieb er für diese Besetzung“, so Christine Fischer, eine der Initiatorinnen der Lachenmann-Perspektiven 2015. „Sie zeigen in besonders eindrücklicher Weise die Entwicklung, die der Komponist musikalisch bis heute unternommen hat.“ Keine andere Besetzung hat ihn so beschäftigt, und aus keiner anderen Institution hat er so massiven Widerstand erfahren wie aus ihr. Doch auch dort sind die extremen und leidenschaftlichen Anfeindungen, die er erlebte, vergessen. Seine Musik aufzuführen, ist für viele Orchester noch immer eine Herausforderung – viele Musiker kennen seine avancierten Spieltechniken noch nicht. Jedoch heute hegen die meisten Orchester höchste Wertschätzung für seine Musik. Wie sehr, das zeigten die vielen Aufführungen in der ganzen Welt zu seinem runden Geburtstag, denn das sinnliche wie reflektierende Erleben seiner Musik ist längst einer großen Öffentlichkeit vertraut.
Doch was ist nun das Besondere an seinem Werk?
Es steht im Kontext mit der abendländischen Musiktradition, die jedoch seiner kritischen Reflexion unterworfen wird. Lachenmann geht es um die aktive Auseinandersetzung mit neuen, mit seriellen Techniken, mit dem Prinzip Zufall, aber auch mit der wechselseitigen Beziehung zwischen Musik, Mensch und Gesellschaft. Es geht ihm um Befreiung von alten traditionellen Hörgewohnheiten und um ein neues Kompositions- und Hörverständnis.
Er weitete den klassischen Musikbegriff zu neuen nicht mehr an Tonalität und Tonhöhen gebundene Klangwelten. „Klänge sind Naturereignisse“, so der Komponist. Sein Ideal ist die absolute Freiheit der Kunst ohne innere und äußere Zwänge; sein Motor ist dabei nicht die Konfrontation, sondern Kommunikation und Empathie. Er bezieht Musiker wie Hörer in den Prozess des Infragestellens ein, regt Neugierde, Abenteuerlust und Entdeckerfreude an und lädt zu einer Reise in unbekannte und unerhörte Welten ein. Lachenmann will – so seine Worte – mit seiner Musik „das Hören, auch als Denken, herausfordern, und mit neugieriger Vernunft, Klangsinn und Intuition auf die eigene ästhetische Umgebung so sensibel, so intelligent, so intensiv wie nur irgend möglich, kreativ reagieren.“ Text: Susanne Heeber

arsmondo-Tipp: Begleitend zum europäischen Orchesterprojekt der Lachenmann-Perspektiven 2015 entstand eine DVD Reihe über die Interpretation des Orchesterwerks von Helmut Lachenmann.

Zum Komponisten:
Geboren am 27. November 1935 in Stuttgart, studierte Lachenmann von 1955 bis 1958 an der Musikhochschule Stuttgart Kompositionslehre, Musiktheorie und Kontrapunkt bei Johann Nepomuk David und Klavier bei Jürgen Uhde. Nach Abschluss seiner Kompositionsstudien lernte er während der Darmstädter Ferienkurse 1957 den italienischen Komponisten Luigi Nono kennen und wurde zwischen 1958 und 1960 sein einziger Schüler; er siedelte deshalb nach Venedig um und erwarb sich bei ihm das entscheidende Rüstzeug für ein Tonsetzerleben an den Fronten des Unerwarteten. 1960 kehrte der Komponist nach Deutschland zurück. Weitere wichtige Impulse empfing Lachenmann von Karlheinz Stockhausen während der sogenannten „Kölner Kurse“. Neben seiner Tätigkeit als freischaffender Komponist unterrichtete er ab 1966 an den Musikhochschulen in Basel, Stuttgart und Hannover. Von den beiden letzteren wurde er später zum Professor ernannt.
1968 wird Air uraufgeführt, das erste Orchesterwerk Lachenmanns. Danach entstehen in regelmäßigen Abständen weitere Werke, in denen er seine Ästhetik der „Musique concrète instrumental“ entwickelt. Heute lebt der vielfach ausgezeichnete Komponist (u. a. Bundesverdienstkreuz 1. Klasse und Ernst von Siemens Musikpreis) in Leonberg bei Stuttgart und ist mit der Pianistin Yukiko Sugawara verheiratet.