Eine Definition der Freien Szene im Allgemeinen kann nicht eindeutig sein, muss vielmehr ambivalent bleiben. Sie ist kein homogenes Gebilde, umfasst vielmehr Kulturinitiativen in den Bereichen Musik, Tanz, Theater, Performance, Installation, Radio, bildender Kunst und Multimedia Art. Zur Freien Szene zählen sogar Beratungs- und Service- einrichtungen. Selbst Gastronomiebetriebe können frei von üblichen Konventionen ausgerichtet sein. Wahrscheinlich besitzt sogar jede Kulturinstitution bzw. jede/r Kulturschaffende eine eigene Definition. Man sollte also richtiger von Freien Szenen sprechen.
Frei als Adjektiv meint „nicht gebunden“, „offen“, in keinster Weise eingeschränkt und im Besitz der völligen Freiheit, Dinge auszuprobieren und zu realisieren – eben frei von jedwedem Auftrag. Freiheit benennt in diesem Zusammenhang zum einen die Unabhängigkeit von starren und festgefahrenen Rahmenbedingungen, denen städtische und staatliche Institutionen ausgesetzt sind. Zum anderen unterstreicht sie die Möglichkeit zu experimentieren und neue Produktions-, Rezeptions-, Kommunikations- und Ausdrucksformen von Kunst und Kultur zu entwickeln – unabhängig von überkommenen Mustern und Vorgaben.
Selbstbestimmung lautet der zentrale Begriff!
Die Freie Szene produziert selbstbestimmt Kunst. Diese Kunst muss nicht. Es geht vielmehr darum, etwas zu tun, weil man genau dies tun möchte, ohne dass das, was so entsteht, einen bestimmten Zweck oder Sinn besitzen muss. Gleichzeitig meint dies aber auch, dass sich die Freien Szenen durch massive Eigeninitiative und -verantwortung auszeichnen. Die Künstler reden mit und agieren impulsgebend. Defizite werden aufgezeigt und Risiken eingegangen.
Die entstehenden Projekte sollen überraschen, kritisch, radikal, ja unangenehm sein, um Missstände anzuprangern, immer aber mit dem Versuch Alternativen aufzuzeigen. Grenzen werden über- und neue Wege beschritten.
Die Freien Szenen verstehen sich auch als kritischer Gegenpol zur etablierten Szene, zur Hochkultur, zu Gesellschaft und Politik. Deshalb gehören alle, die auf der Grundlage bestimmter Zielvorstellungen, Anliegen und Visionen selbstbestimmte Kultur schaffen, dazu.
Die Freien Szenen werden aus dem Engagement und der Leidenschaft der Einzelnen gespeist, aus deren Ideen und Kreativität, aber auch aus der Beharrlichkeit heraus, einen beschrittenen Weg weiterzugehen — der meistens voller Stolpersteine ist. Denn Freie Szene bedeutet neben Freiheit auch Verzicht. Der größte Feind ist die Finanzierung. Denn sobald man Kultur auf wirtschaftliche Aspekte herunterbricht, verfehlt sie den eigentlichen Sinn der Kunst.
Die Kommerzialisierung ist folglich der zweite große Feind der Freien Szenen, der aus unabhängiger Kreativität ein populäres Konglomerat machen kann. Sich selbst und der Idee der eigenen Kulturproduktion treu zu bleiben und trotzdem von den geringen Förderungen und den Eigenmitteln leben zu können, ist der zu bewältigende, daraus resultierende Spagat.
In der Freien Theaterszene nun, gibt es nichts, was es nicht gibt: Sprech- und Musiktheater, Performance- und Tanztheater, Material- und Objekttheater, Figuren-, Puppen-, Masken- und Schattentheater, Artistik und Clownerie, Probier- und Experimentierbühnen, Improvisationstheater und Theatersport, Straßen- und Tourneetheater, Lehr- und Wanderbühnen; Kinder- und Jugendtheater, Spartenübergreifendes Theater, Ensembles die sich nur für ein Projekt zusammenfinden, Solisten, Kompanien ohne und mit festem Haus.
Was zur Bühne gemacht wird, ist nicht weniger vielfältig, z. B. Theaterschiffe in Tübingen, Heilbronn oder Stuttgart, ehemalige Fabriken und Depots, Museen und Galerien, die freie Landschaft oder urbane Straße, Wohnzimmer, Scheunen und in Weinheim sogar ein Saustall oder Interimsnutzungen von Geschäften oder Autohäusern.
Und dann wären da die vielen Soziokulturellen Zentren – allein in Baden-Württemberg sowohl im urbanen als auch im ländlichen Raum über 50 –, die Freien Ensembles, Künstlern und Künstlerinnen, geistigen Raum, Probe- und Auftrittsmöglichkeiten für ihre, oft innovativen Projekte zur Verfügung stellen. Kulturelle Vielfalt ist ihr Programm, eine interkulturelle Öffnung ihr Ziel. Der künstlerische Gehalt steht über dem kommerziellen Gewinn. Über 68% der jährlichen Kosten werden in den geförderten Einrichtungen durch Eigenmittel finanziert. Ehrenamtliche, Festangestellte und zahlreiche Freiberufler engagieren sich dort für ein flächendeckendes kulturelles Angebot. Vieles, was heute der populären Kunst zuzuordnen ist, begann hier. Die soziokulturellen Zentren sind die Orte, in denen neue Formate entwickelt, neue Impulse gegeben, experimentiert wird, auch spartenübergreifend.
Außerdem ist kulturelle Bildung ein essentieller Bestandteil ihrer Arbeit. Interessierten bieten sie die Möglichkeit zur Teilhabe an künstlerischer Gestaltung oder die Rahmenbedingungen für einen Diskurs über gesellschaftlich und politisch relevante Themen. Text: Susanne Heeber
Eine kleine Auswahl aus dem überbordenden Angebot der bunten Freien Theaterszene in Baden-Württemberg:
Backsteinhaus produktion
Nicki Liszta ist die künstlerische Leiterin dieser jungen Gesellschaft. Sie studierte Tanztheater an der Hogeschool voor de Kunsten, Tilburg. Seit 2005 realisiert sie eigene Bühnenproduktionen sowie ortsspezifische Improvisationen und Performances. Liszta verbindet Tanz mit Theater. Ihre Produktionen handeln von Menschen. Mit viel Humor und Charme, ohne Zeigefinger, untersucht sie Beziehungsgeflechte und ihre verschiedensten Auswüchse. Die Authentizität der Darsteller ist besonders wichtig und bildet oftmals die Basis der Stücke. Platziert in eine theaterfremde Locations, z. B. ein Industriegelände oder ein Wohnzimmer, entstehen faszinierende Tanztheatervorstellungen. Jede Inszenierung entsteht in Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Künstlern. 2008 erhielt Nicki Liszta für ihr Stück zwischen häuten den Stuttgarter Theaterpreis für die beste Produktion aus Baden Württemberg.
Weitere Informationen: www.backsteinhausproduktion.de
BORIS&Konsorten
Boris&Konsorten steht auf drei Beinen: Prävention, Kabarett, Sprechtheater. Für die jeweilige Produktion kommen die verschiedensten Künstler zusammen. Die Konsorten eben.
Die Produktionen sind mobil. Sie kommen entweder mit dem Zug in Schulklasse oder Theater. Oder mit ihrem Wasserwerfer direkt vor Ihr Gebäude.
Weitere Informationen: www.boris-und-konsorten.de
Cargo-Theater Freiburg
Nach der Schauspielausbildung (Freiraum – Theater Bremen) und mehrjähriger Theatererfahrung gründeten Margit Wierer und Stefan Wiemers 1992 das Cargo-Theater als Freies professionelles Theater. Seither entwickelten die beiden elf Kinder- und Jugendtheaterstücke und vier Abendproduktionen. Für die jeweiligen Produktionen arbeiten sie mit Gastschauspielern und -regisseuren zusammen. Eine lebendige Bildsprache, bei der sie sich vor allem durch ihren Körper und dem Spiel mit den Requisiten im Raum ausdrücken, bietet dem Zuschauer Platz für eigene Phantasien.
Weitere Informationen: Cargo-Theater, Ferdinand-Weiß-Str. 6a, 79106 Freiburg; Tel. 0761 807136; www.cargo-theater.de
Theater der Immoralisten
2001 „gegen den Publikumsgeschmack als Studententheater mit unerhörtem Anspruch begonnen“ rückt das Theater der Immoralisten abgründig, absurd, durchaus verspielt und mit eindeutigem Hang zum
schwarzen Humor das Erlebensspektrum des modernen Menschen in den Fokus. Die innovativen Inszenierungen setzen sich mit der Vielfalt theatralischen Schaffens auseinander. Um die künstlerische und inhaltliche Stringenz ihrer Arbeiten kämpfen sie jedes Mal mit vollem Einsatz.
Weitere Informationen: Theater der Immoralisten, Weddigenstr. 8, 79100 Freiburg; Tel. 0761/456551; www.immoralisten.de
LOKSTOFF! Theater im öffentlichen Raum
Das Theater im öffentlichen Raum besteht seit Oktober 2003 und wurde von den Schauspielern Wilhelm Schneck, Kathrin Hildebrand und Andrea Léonetti gegründet, die bis heute die künstlerische Leitung innehaben. Entsprechend den spezifischen Anforderungen der jeweiligen Projekte wird das Schauspieler- und Organisationsteam ergänzt durch weitere Schauspieler, Regisseure, Architekten und Stadtplaner, bildende Künstler, Grafiker sowie Kreative anderer Berufsgruppen.
Die Themen kreisen um die Probleme und Herausforderungen einer urbanen Gesellschaft. Lokstoff! spielt nicht nur im und für, sondern auch über den öffentlichen Raum und thematisieren ihn in seiner politischen, kulturellen und urbanen Dimension, um den Zuschauer für die Fragestellung zu sensibilisieren und zum Nachdenken einzuladen. Das Spielen im öffentlichen Raum dramatisiert also nicht nur Orte der Öffentlichkeit, sondern schärft das Bewusstsein über den Stellenwert und die Bedeutung von Öffentlichkeit und öffentlichem Raum für ein funktionierendes Gemeinwesen. Die Orte werden atmosphärisch durch die Aufführung verdichtet. Realität, Fiktion und Interaktion verflechten sich.
Weitere Informationen: LOKSTOFF!; Tel. 0711 – 64 56 610; www.lokstoff.com
Theater Lindenhof
Gegründet 1981, die Wurzeln in der linken städtischen Studentenbewegung und der eigenen Jugend auf dem Land, zog es die ungestüme Schauspieltruppe vor Jahren in die 700-Seelen Gemeinde Melchingen. Wo die Schwäbische Alb am rauesten ist, fernab der Kulturmetropolen, erwarben die Theaterleute die Dorfwirtschaft „Linde“. Mit Feuereifer bauten sie daraus ein Zuhause für sich und ihre Kunst – angespornt von ungeheurer Spiellust und den Idealen der „freien“ Theaterszene, ausgestattet mit viel Wagemut und einer guten Portion Besessenheit – oder: schwäbischer Dickköpfigkeit. Faszinierende Theaterexkursionen im Freien und beindruckende Inszenierungen auf der Bühne, große Schauspielproduktionen und ein vielseitiges Kleinkunstprogramm: Seit nun mehr fast drei Jahrzehnten bieten die „Lindenhöfler“ ihrem Publikum Volkstheater im besten Sinne.
Weitere Informationen: Theater Lindenhof Melchingen, Unter den Linden 18, 72393 Burladingen-Melchingen; Tel. 07126/92 93-0; www.theater-lindenhof.de
LIMA-Theater
Intimität und Stille einer mittelalterlichen Hauskapelle bilden seit 1984 den Rahmen für die Kunst des Figurentheaters in Esslingen am Neckar. Im kleinsten Theater der Region Stuttgart verbinden sich Sichtweisen über Literatur, Theater und Musik zu einer theatralen Wirklichkeit. Animierte Figuren formen in einem szenischen Bildraum der Bühne eine virtuelle Kunstwelt, die im Spiel erfahrbar wird: Hier erleben Sie Illusionen, die zur Realität werden!
Weitere Informationen: LIMA-Theater, Landolingsgasse 1, 73728 Esslingen; Tel. 0711 311124; mail@lima-theater.de; www.lima-theater.de
Eine Übersicht aller freien Institutionen in Baden-Württemberg gibt der Landesverband Freier Theater Baden-Württemberg e.V. unter www.laftbw.de
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