Literarischer Schatz

Neben Franz Kafka zählt Rainer Maria Rilke zu den weltweit wichtigsten deutschsprachigen Autoren der literarischen Moderne. Das nun in den Bestand des Deutschen Literaturarchivs Marbach eingehende Rilke-Archiv Gernsbach ist literaturgeschichtlich von unschätzbarem Wert.

Die Superlativen scheinen nicht auszureichen: Die „Rilke-Sensation“ titelte die FAZ, andere Medien sprachen von einem „Literaturschatz“, als im Dezember bekannt wurde, dass die Erben von Rainer Maria Rilke (1875-1926) den nahezu 100 Jahre lang im Familienbesitz gehegten und gepflegten Nachlass des Dichters dem Deutschen Literaturarchiv Marbach (DLA) anvertrauen möchten. Damit reiht sich der letzte große Bestand eines deutschsprachigen Autors der Moderne, der noch in Privatbesitz war, in die Sammlung ein, die rund 1.600 Nachlässe beherbergt. Einen Hinweis, welche Bedeutung diesem Transfer beizumessen ist, zeigt ein Blick auf die Koalition, die ihn finanziell ermöglicht hat: Der Erwerb des „Rainer Maria Rilke-Archivs Gernsbach“ war eine „gemeinsame Kraftanstrengung von öffentlicher Hand und privaten Stiftungen“, an der sich neben dem Land Baden-Württemberg durch die Baden-Württemberg Stiftung auch die Kulturstiftung der Länder, die Wüstenrot Stiftung, die Berthold Leibinger Stiftung, die Staatsministerin für Kultur und Medien und die Carl Friedrich von Siemens Stiftung beteiligt haben. Entsprechend begeistert äußerte sich DLA-Direktorin Sandra Richter dann auch bei einer Pressekonferenz in der Vertretung des Landes Baden-Württemberg in Berlin über den Nachlass: „Das Rilke-Archiv Gernsbach ist ein Jahrhunderterwerb. Mein großer Dank gilt dem Kreis der Förderer, die diese epochale Erwerbung in wunderbarem Zusammenwirken ermöglicht haben.“ Dabei waren die zuletzt verhältnismäßig zügigen Verhandlungen mit den drei Urenkelinnen Rilkes – innerhalb eines Jahres sei man sich schlussendlich einige geworden – das letzte Kapitel einer längeren Geschichte: „Seit seiner Gründung hat sich das
Deutsche Literaturarchiv um das Rilke-Archiv Gernsbach bemüht und gleichzeitig die weltweit größte Rilke-Sammlung zusammengetragen.“ Jetzt ist also eine der wichtigsten Nachlass-Erwerbungen in der Geschichte der Deutschen Schillergesellschaft gelungen.

Im Kern handelt es sich um Manuskripte, Briefe und Bücher, die 1914 in Paris von Rilkes Zugehfrau, Andre Gide und Romain Rolland vor der drohenden Vernichtung gerettet wurden, die im Familienbesitz, zunächst in Weimar, später in Fischerhude und schließlich im badischen Gernsbach, zusammengehalten wurden. Das Konvolut umfasst insgesamt mehr als 10.000 handschriftliche Seiten mit Werkentwürfen und Notizen, etwa 8.800 Briefe und über 470 Bücher und Zeitschriften, neben deutschsprachigen Titeln auch viele in französischer, italienischer und russischer Sprache, die mit zahlreichen Annotationen und Widmungsgedichten versehen sind. Zudem befinden sich 131 bislang unbekannte Zeichnungen von Rilke sowie rund 360 Fotografien aus allen Lebensphasen und weitere biografische Materialien im Gernsbacher Nachlass. 86 weitgehend unbekannte Skizzen- und Taschenbücher eröffnen mit Tagebucheinträgen, Notizen, Exzerpten, Gedichtund Briefentwürfen neue Perspektiven zum Verhältnis von Biografie und Werk. Rilkes außerordentlich umfangreiche Korrespondenzen, die von der Forschung als ein wichtiger Teil seines literarischen Werks angesehen werden, umfassen 2.500 Briefe von ihm mit mehr als 7.500 Seiten und rund 6.300 B riefe an ihn. Erhalten sind unter anderem Briefe von bzw. an Lou Andreas-Salomé, Max Brod, Hans Carossa, Eugène Carrière, Eleonora Duse, Stefan George, André Gide, Oskar Maria Graf, Gerhart Hauptmann, Hermann Hesse, Hugo von Hofmannsthal, Harry Graf Kessler, Ellen Key, Paul Klee, Oskar Kokoschka, Annette Kolb, Karl Kraus, Else Lasker-Schüler, Gustav Meyrink, Robert Musil, Boris Pasternak, Alfred Polgar, Walter Rathenau, Auguste Rodin, Romain Rolland, Arthur Schnitzler, Georg Simmel, Paul Valéry, Heinrich Vogeler, Clara Westhoff-Rilke und Stefan Zweig. Sie zeigen, wie intensiv Rilke in die europäischen Literaturund Kunstszenen seiner Zeit eingebunden war. Überliefert sind auch zahlreiche Zuschriften von Lesern, Verehrerinnen und Verehrern, Zusendungen von jungen Schreibenden und von politischen Gruppierungen, die den Autor um Mitwirkung baten. Abrechnungen von Verlagen und Anträge auf Unterstützungen geben Auskunft über seine zeitweise prekäre finanzielle Situation. Unter den Briefen befindet sich einer, der für den sensiblen Dichter zu den schmerzlichsten gehört haben dürfte: „Letzter Zuruf!“ hat Lou Andreas-Salomé ihren Abschiedsbrief vom 26. Februar 1901 an den von ihr miterfundenen Rainer Maria Rilke überschrieben (der Künstler-Vorname – Rilke hieß eigentlich René – geht genauso auf sie zurück wie eine veränderte, „auratischere“ Handschrift).
Der in Prag geborene Autor verstand sich als Europäer und Weltbürger. Er lebte längere Zeit in Frankreich und in Italien, in Deutschland und in der Schweiz. Dort befindet sich auch sein Grab. Ausgedehnte Reisen führten ihn nach Russland und Spanien, nach Skandinavien und Ägypten. Er schrieb Gedichte nicht nur in deutscher, sondern auch in französischer und russischer Sprache und übersetzte Werke unter anderem von Gabriele d’Annunzio, Augustinus, Elizabeth Barrett Browning, Charles Baudelaire, André Gide, Jens Peter Jacobsen, Sören Kierkegaard, Michail J. Lermontow, Stéphane Mallarmé, Michelangelo, Francesco Petrarca, William Shakespeare und Paul Valéry.
Dass das Stillschweigen über den Kaufpreis der „epochalen Erwerbung“ (Richter) sogar im Kaufvertrag fi xiert wurde, verwundert nicht, entspricht es doch der allgemeinen Praxis des Hauses auf der Marbacher Schillerhöhe. Der literaturgeschichtliche Wert des Konvoluts ist indessen noch kaum abzuschätzen: Viele Dokumente des Gernsbacher Rilke-Archivs sind noch unveröffentlicht und werden durch die archivarische und bibliothekarische Erschließung am DLA der Öffentlichkeit erstmals zugänglich werden.
Bereits vor diesem Erwerb war die Rilke-Sammlung des DLA neben der des
Schweizer Literaturarchivs in Bern, das sich vorwiegend den späten Jahre
widmet, eine der größten öffentlichen Sammlung dieser Art. In gemeinsamer Arbeit mit Forschungs- und Archivpartnern werde sich das DLA nun in einem Arbeitsschwerpunkt der Erschließung, Erforschung und Edition des Nachlasses widmen, so Sandra Richter. Eine große Ausstellung zum Rilke-Nachlass ist ebenfalls geplant: Vernissage soll am 4. Dezember 2025, dem 150. Geburtstag Rilkes stattfinden, die Finissage folgt am 29. Dezember 2026, dem 100. Todes tag des Schriftstellers, der mit Gedichten wie „Der Panther“, den „Duineser Elegien“ und den „Sonetten an Orpheus“ unsterblich wurde.

Text: Harry Schmidt