Bekannt ist Nina Blazon als erfolgreiche Kinder und Jugendbuchautorin, die aber auch gerne historische Romane schreibt. „Ich finde es einfach wahnsinnig spannend, nach Ursprüngen zu forschen“, erläutert sie ihre Motivation. Jetzt hat sich Nina Blazon in Stuttgart auf Spurensuche begeben. Mit der freundlichen Genehmigung des 8grad-Verlags offeriert Ihnen arsmondo einen ersten Blick ins Buch.

In ihrem neuen Buch „Stuttgarts verborgene Geschichten“ unternimmt Nina Blazon eine kurzweilige poetische Tour durch die Stadt. Mit Schwester Henny, der ersten Polizeiassistentin Stuttgarts, wandert sie durch die Viertel des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Im Hier und Jetzt entdeckt sie Streetart des anonymen Künstlers Wingsy. Sie nimmt die Spuren der Löwenbändigerin Claire Heliot und des Stuttgarter Bestiariums aus, erzählt vom Stadtfuchs und den Cannstatter Papageien. Im Heslacher Kohldampf-Gässle lauscht sie dem Industriezeitalter nach und spürt in Helga Brehmes Marionettentheater den Zauber des Kindseins auf. So fügen sich Geschichten, Gesichter und Stimmen aus verschiedenen Epochen und Lebenswelten zu einem Kaleidoskop spannender Blickwinkel und ermöglichen überraschende Perspektiven auf Drachen und andere Rätsel in der Stadt. Zauberhaft und zeitlos illustriert werden die Geschichten von der Stuttgarter Künstlerin Dora Várkonyi.
Picknick mit Pandora Abends auf der Karlshöhe Nach außen hin präsentiert sich die Stadt mit Superlativen des 18. bis 20. Jahrhunderts: Dichter, Denker, Sensationen – Pioniertaten und Initialzündungen nicht nur in der Automobilindustrie. Geht man ins StadtPalais, das Museum für Stuttgarts Stadtgeschichte, findet man die kreativen Köpfe aller Sparten als Schattenschnitte und mit Audioinstallation in Szene gesetzt. Man erfährt, dass Louis Leitz 1896 hier den Leitz-Ordner erfunden hat und dass die praktisch-quadratische Ritter-Sport-Schokolade, die Ahoj-Brause, der Büstenhalter und vieles mehr hier erdacht und in die Welt gebracht wurden. Man staunt überhaupt, wie viele erste Male die Stadt im Lebenslauf hat: Der Fernsehturm, auf den wir hier schauen, war weltweit der erste seiner Art. Therese Huber die erste Frau, die im 19. Jahrhundert Chefredakteurin einer Zeitung, dem Morgenblatt für gebildete Stände war. Georg Herwegh der erste Dichter, der sozialkritische Lyrik schrieb. 1903 wurde hier erstmals in Deutschland eine Frau als Polizeiassistentin eingestellt. Das erste große Dichterdenkmal wurde in der Altstadt errichtet, der erste Zoo eröffnet und im botanischen Garten der Wilhelma der größte Magnolienhain nördlich der Alpen gepflanzt. Last, but not least: Stuttgart hält mit 400 Treppenwegen an Hängen und Straßen den Rekord als »Stadt mit den meisten Stäffele«. Ein stetiges Höher-größer-weiter also, auf das sich die Alteingesessenen bei den »Neigschmeckten« gerne berufen. Doch wenn ich jetzt ins Tal schaue, scheint die Stadt gar nicht mehr greifbar zu sein. Zeiten, Epochen, Schicksale und Perspektiven fließen wie Spiegelungen auf einem Fluss zusammen, um sich gleich wieder zu verlieren. Bei all den fest gefügten Narrativen von Industriestandort, Architektur-Hochburg und Verlagsstadt bis hin zur »Kehrwochenmetropole« und »Schwabylon « ist Stuttgart mit seiner Vielfalt von Kulturen, Nationalitäten, Schicksalen und geschichtlichen Strömungen ein fließendes Konzept. Sie war der Hoffnungsort der Näherin, die Anfang des 20. Jahrhunderts hier eine bessere Zukunft suchte und verarmt im »Kohldampf-Gässle« an der Böheim-Straße landete; die Heimat von Irene Winter, an deren Deportation und Ermordung im Jahr 1943 heute ein Stolperstein erinnert; die kreative Keimzelle der Fantastischen Vier, die 1992 ihren ersten großen Charterfolg mit dem Titel »Die da!?!« feierten. Und ebenso war sie das Zuhause irgendeines Weinbauern, der im 17. Jahrhundert am Nesenbach wohnte und dessen Lebensspuren längst verwischt sind. Der ungarische Autor Sándor Márai schreibt, dass jede Generation den vorherigen immer nur ganz wenig hinzufügt. Zum allergrößten Teil verkörpern wir die Leben unserer Ahnen. Und vielleicht ist es ja mit einer Stadt genauso? Mir gefällt die Idee, dass in uns möglicherweise unbewusst auch das schwingt, was in unserer Stadt je gelebt, gefühlt und auch erlitten wurde. Und wo wir einander in diesem jahrhundertealten Hoffnungs- und Möglichkeitsraum berühren, wachsen wir zusammen oder auch auseinander, grenzen uns ab oder verwandeln uns gegenseitig, verorten uns auch immer wieder neu mit der Frage, ob wir die Stadt Heimat oder ein Zuhause nennen, Studienstadt, Zufluchtsort oder nur Zwischenstation im Lebenslauf. Mir wuchs sie als Wahlheimat tief ins Herz, gab mir die Wurzeln, die ich als Kind dreier Länder vorher niemals und nirgendwo so recht gespürt hatte, und blies mir Mut unter die Flügel, die mich schließlich zum Schreiben trugen. Doch was genau wäre in diesem Kaleidoskop verschiedenster Leben und Epochen nun das Fragment »mein Stuttgart«? Heute jedenfalls ein völlig anderes als das, in das ich Mitte der Neunziger kam. Damals begrüßte die Metropole mich als Autostadt mit dem Röhren von Motoren, das sich in den Tunneln an der Theodor-Heuss-Straße zu einem irren Echo verstärkte. Mir dröhnten die Ohren und der Kopf und ehrlich gesagt auch die Seele, nie hatte ich mich verlorener gefühlt. Die Messlatte schien zu hoch zu sein für eine Zugereiste, die frisch vom Studium kam mit einem Rucksack, einem Platz auf einem Übernachtungssofa und einem Lehrauftrag in der Tasche, und die sich hier in jeder Hinsicht fehl am Platz fühlte. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich lernte, das Grundrauschen der Superlative genau wie den ewigen Autolärm auszublenden und von der imposanten Mitte in die Nebenstraßen auszuweichen. Von dort ist es nicht weit zu dem bunten Fleckenteppich aus Stadtbezirk- Dörfchen, in denen es sich in einem leiseren, persönlicheren Takt leben lässt. Fürs Erste fasste ich in Gablenberg im Stuttgarter Osten Fuß. Es ist ein eng bebautes ehemaliges Arbeiterviertel mit schmalen Straßen und schmucken roten Klinkerbauten am Ostendplatz. Im ersten Winter blühten wochenlang Eisblumen an den Scheiben und von den Dachrinnen hingen lange Eiszapfen. Die nächste Station war der szenige Westen mit seinen großen Lindenalleen, in denen die Luft im Sommer nach Blüten riecht. Zwischen Kneipen mit Jugendstilfassaden hauste ich auf acht Quadratmetern in einer WG mit einem ägyptischen Doktoranden. Morgens fuhr ich zur Arbeit in den Stuttgarter Süden und die Mittagspause verbrachte ich manchmal in Konrad Kujaus Kneipe Alt Heslach in der Böblinger Straße. Seine Gemälde aller Stile und Epochen schmückten die Wände und manchmal sah man den Urheber der gefälschten Hitler-Tagebücher auch selbst am Tresen sitzen. Dieses Stuttgart war noch eine Stadt ohne heiße Dürresommer und ohne Social Media. Man telefonierte mit backsteingroßen Nokia-Handys und schaute am Schlossplatz den Skatern und Hip-Hop-Künstlern zu, die sich an der abgeranzten Betontreppe trafen – genau dort, wo heute das kubusförmige Kunstmuseum steht. Thorsten Lannert hieß noch Kommissar Bienzle, und wenn man zur urbanen Szene gehören wollte, ließ man sich gefälligst in der Radio Bar blicken. Längst ist die Kreativszene im Musikhaus Barth dem heutigen City Plaza gewichen. Genauso, wie es nicht möglich ist, zweimal in denselben Fluss zu steigen, lebt man eben keine zwei Jahre in derselben Stadt. Ich könnte das Experiment machen und ChatGPT danach fragen, was Stuttgart im Sommer 2024 ausmacht, aber ich glaube nicht, dass diese Datenbank von elektrischen Glühwürmchen träumen kann. Und so blättere ich im Notizbuch eine neue Seite auf und fange einfach an – als eine, die immer Stift und Papier dabei hat und sich gerne in fremde Köpfe denkt. Ich lade ein zu einem Spaziergang zwischen den Zeilen, zu Zeitreisen und Besonderheiten, zu Atmosphären und Perspektiven, zu Augenblicksbildern, die sich im Fluss verlieren und doch immer Teil des »Stuttgartversums« bleiben. Lauschen wir gemeinsam Menschen aus verschiedenen Zeiten und Stadtvierteln. Und vielleicht auch – warum eigentlich nicht? – Stadtfüchsen, Drachen und dem Wasserrauschen der Mineralbrunnen. Oder fangen wir doch gleich – hier im alten Steinbruch sitzend – bei dem ältesten Erzähler dieser Stadt an: dem Stein. Auszug aus: Stuttgarts verborgene Geschichten. Von Drachen und anderen Rätseln Literarischer Reisebericht mit Illustrationen von Dora Várkonyi 8 grad Verlag, Freiburg Nina Blazon, geboren 1969 in Koper (Slowenien), verbrachte ihre Kindheit und Jugendzeit in Bayern. Nach dem Studium der Germanistik und Slawistik in Würzburg unterrichtete sie als Lehrbeauftragte an den Universitäten Tübingen und Saarbrücken. Sie absolvierte ein Redaktionsvolontariat, arbeitete als Journalistin und als Werbetexterin. Seit 2003 hat die Autorin mehr als vierzig Kinder- und Jugendbücher aus den Genres Fantasy, Krimi, Historischer Roman und Naturkinderbuch veröffentlicht. Für ihr Debüt Im Bann des Fluchträgers (2003) wurde sie mit dem Wolfgang-Hohlbein-Preis und dem Deutschen Phantastik ausgezeichnet. Als zertifizierte Waldführerin bietet die Autorin auch literarische Wald-Erlebnisführungen für Kinder (und Erwachsene) an und arbeitet zudem als Dozentin für kreatives, biografisches und therapeutisches Schreiben. Nina Blazon lebt mit ihrer Familie in Stuttgart.