Beethoven und sein neidischer Dämon

Der volle Nachttopf stand nachmittags noch unter seinem Flügel, Essensreste lagen zwischen den Manuskripten herum. Sein Äußeres wird als untersetzt, sein Gesicht als pockennarbig beschrieben. So sehr sich Ludwig van Beethoven (1770-1827) in jungen Jahren als rheinische Frohnatur gab, so griesgrämig und cholerisch muss er wohl im Alter gewesen sein. Er selbst führte das in seinem sogenannten „Heiligenstädter Testament“ auf seine Taubheit zurück.
Und dagegen war einfach kein Kraut gewachsen! Weder Tees noch Pillen, weder Tropfen aus Mandelöl oder mit Meerrettich bestrichene Baumwolle, die er in die Ohren stopfte – nichts hat geholfen! Selbst die Galvano-Therapie mit Gleichstrom, eine quälende Prozedur, brachte nicht die erhoffte Wirkung. Voller Verzweiflung suchte Beethoven unzählige Mediziner auf, die besten Ärzte seiner Zeit. Doch die Ertaubung ließ sich nicht aufhalten. Heute wäre das wahrscheinlich anders…
Ab 1818 begann er fast ausschließlich, mit schriftlichen Botschaften zu kommunizieren. In den letzten Jahren vor seinem Tod war er völlig taub.

Der neidische Dämon

Mit 31 Jahren, in einem Brief vom 29. Juni 1801 an seinen Freund den Mediziner Franz Gerhard Wegeler (1765-1848), klagt Beethoven erstmals über Gehörverlust: „Der neidische Dämon hat meiner Gesundheit einen schlimmen Streich gespielt, nämlich mein Gehör ist seit drei Jahren immer schwächer geworden [Schwerhörigkeit]. (…) nur meine Ohren, die sausen und brausen Tag und Nacht fort [Tinnitus]. Ich bringe mein Leben elend zu. Seit zwei Jahren meide ich alle Gesellschaften, weil’s mir nicht möglich ist, den Leuten zu sagen, ich bin taub. Hätte ich irgendein anderes Fach, so ging’s noch eher, aber in meinem Fach ist es ein schrecklicher Zustand. (…) Die hohen Töne von Instrumenten und Singstimmen höre ich nicht [Hochtonverlust], wenn ich etwas weit weg bin, auch die Bläser im Orchester nicht. Manchmal auch höre ich den Redner, der leise spricht, wohl, aber die Worte nicht [Sprachverständlichkeitsverlust], und doch, sobald jemand schreit, ist es mir unausstehlich [Hyperakusis].“ Als wäre das alles noch nicht schlimm genug, hörte er das, was in seinen Ohren ankam, verzerrt [Recruitment].
Trotzdem komponierte Ludwig van Beethoven weiter und wird zu dem Sonderling, als der er – wie aktuelle Biografen sagen – zu Unrecht in Erinnerung geblieben ist.
Er selbst muss das bereits sehr früh gemerkt und darunter gelitten haben. Denn er schrieb 1802 in sein „Heiligenstädter Testament“: “Sobald ich tot bin, (…), so bittet ihn [seinen Arzt Professor J. Adam Schmidt] in meinem Namen, dass er meine Krankheit beschreibe, (…) damit wenigstens so viel als möglich die Welt nach meinem Tode mit mir versöhnt werde (…)“.

Hochtonverlust

Der Gehörverlust beeinflusste seine Arbeit deutlich: Mit fortschreitender Taubheit konnte Beethoven hohe Töne, die von den Musikern gespielt wurden, kaum mehr hören und begann, zunehmend auf sie zu verzichten. Das untersuchte der Forscher vom Niederländischen Zentrum für Stoffwechsel in Leiden Edoardo Saccenti gemeinsam mit seinen Kollegen anhand von Beethovens Streichquartetten. Diese lassen sich demnach in vier Perioden einteilen: von den frühen Kompositionen der Jahre 1798 bis 1800 bis hin zu den Spätwerken, die er von 1824 bis 1826 komponierte. Dabei zählten die Wissenschaftler Töne, die auf der Notenskala über G6 liegen, was einer Frequenz von 1,568 Hertz entspricht. Während es in den Frühwerken viele dieser Töne gab, wurden sie mit zunehmender Taubheit des Komponisten seltener.

Beethovens Schatz

Faszinierend – bei seinen letzten Werken finden sich erstaunlicherweise wieder zahlreiche hohe Töne!
Warum das?
Wie sich die Welt für Beethoven anhörte, nachdem das Sausen und Brausen verstummt war – darüber lässt sich nur mutmaßen. Er hatte ein absolutes Gehör, konnte sich also die Töne und ihren Zusammenklang im Kopf vorstellen. Wissenschaftler vermuten, dass sich Beethoven versunken in völlige Stille nur noch auf sein inneres Ohr verließ. Er hatte eine reiche innere musikalische Welt, wie die meisten anderen Musiker auch. Das war Beethovens Schatz. Hieraus konnte er sich bedienen. Nichts anderes ist Musikalität als das Neu-Kombinieren von musikalischen Gestalten. Außerdem hatte er sich als Pianist ein hohes Qualitätsbewusstsein antrainiert.
Manche Wissenschaftler, vor allem Neurologen und Hörakustiker sagen sogar, Beethoven habe es leichter gehabt als hörende Komponisten, eine eigene Handschrift zu entwickeln und seinen eigenen Sound zu finden. Denn bei Menschen, die im Alter schwerhörig werden oder taub sind, treten häufig musikalische Halluzinationen auf. Man spricht dann von einem „Enthemmungsphänomen“. Wenn die Nervenzellen, die musikalische Gedächtnisinhalte codieren, keine Anregung mehr von außen erfahren, beginnen sie selbst Melodien zu produzieren – unaufhörlich und ohne Rücksicht auf Konventionen.

Für die Welt verloren

Bei allem Positiven, was die Wissenschaft der Taubheit Beethovens abgewinnen kann: Der Preis bleibt trotzdem unvorstellbar hoch und die persönliche Tragik enorm! Es war Emanuel Kant, der einmal konstatierte, dass schlechtes Sehen von den Dingen trenne, Schwerhörigkeit aber von den Menschen. Beethoven beschreibt mehrfach die charakteristische, soziale Isolation des Schwerhörigen. Er zieht sich aus der Welt zurück und hat Suizidgedanken. Nur seine Kunst war es, die ihn rettete!
Text: Susanne Heeber