Lydia Rilling

Lydia Rilling ist Kuratorin und Musikwissenschaftlerin, die sich auf zeitgenössische Musik und Musiktheater spezialisiert hat. Seit März dieses Jahres hat sie als erste Frau in der beeindruckenden 100-jährigen Geschichte der Musiktage das Zepter von Björn Gottstein übernommen, der seit 2015 an der Spitze des Festivals stand. Sie will die Donaueschinger Musiktage künftig noch virtueller, jünger und internationaler gestalten. arsmondo sprach mit Lydia Rilling über ihre Visionen und ihr leidenschaftliches Anliegen die Neue Musik noch mehr in der Mitte der Konzertszene zu verorten.

Lydia Rilling – Künstlerische Leitung der Donaueschinger Musiktage
© SWR/Patricia Neligan/foto@swr.de

Können Sie sich noch an Ihre erste Begegnung mit zeitgenössischer Musik erinnern?
Ich kann mich nicht daran erinnern, aber das muss als Kindergarten- oder Grundschulkind gewesen sein. Mein Vater spielt seit vielen Jahren in einem Amateurorchester. Dieses wurde lange von einem Komponisten geleitet, der auch immer wieder eigene Werke mit dem Orchester aufgeführt hat. Ich bin als kleines Kind schon zu den Generalproben des Orchesters gegangen und dort werde ich auch das erste Mal zeitgenössische Musik gehört haben.

War es eine bewusste Entscheidung von Ihnen sich innerhalb Ihrer Laufbahn für die Neue Musik zu entscheiden oder gab es besondere Schlüsselmomente?
Das war eine sehr bewusste Entscheidung am Ende meiner
Schulzeit. Ich habe mit 16 zunächst die musikalische Moderne für
mich entdeckt. Nachdem ich mit den Hausgöttern Bach, Mozart
und Schubert aufgewachsen war (die ich übrigens immer noch
sehr liebe), war die Moderne für mich eine Offenbarung. Eine Tür
öffnete sich zu Klangwelten, die mich sofort faszinierten, gerade
auch weil sie so anders waren als das, was ich bis dahin kannte.
Von da an habe ich mich sehr schnell in die Gegenwart „vorbe-
wegt“. Es war dann eine ganz bewusste Entscheidung, in Berlin
Musikwissenschaft zu studieren, da es dort das größte Lehrangebot zur Musik des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart gab, vor allem von Helga de la Motte-Haber, bei der ich studiert habe und der ich sehr viel verdanke. Meine Faszination für das Zeitgenössische ist seitdem immer weitergewachsen.

Als Autorin, Moderatorin und Journalistin haben Sie in der Vergangenheit für den SWR und die Berliner Festspiele gearbeitet, Sie lehrten und forschten als Musikwissenschaftlerin an der Universität Potsdam und waren Visiting Scholar an der Columbia University in New York. Sie gehörten zu den Initiatorinnen des red bridge project, das Bildende Kunst, Musik, Tanz, Theater und Performance verbindet. Woher kommt Ihre Leidenschaft und Liebe zur Neuen Musik?
Es ist bezeichnend, dass man diese Frage bei zeitgenössischer Musik stellt. Kaum jemand würde gefragt werden, warum er Mozart oder Bach liebt. Meine Leidenschaft für die zeitgenössische Musik hat viele Gründe. Zunächst leben heutige Komponist:innen in der gleichen Zeit wie ich, oft in der gleichen oder ähnlichen Kultur oder Gesellschaften. Ich finde es faszinierend zu hören, zu sehen und zu erleben, wie sie auf unsere heutige Welt künstlerisch reagieren, wie sich ihre Erfahrungen des Hier und Jetzt in Kunst niederschlagen, kurz gesagt: wie heute komponierte Musik klingt. Die historische Distanz, die mich z.B. vom 19. Jahrhundert trennt, existiert hier nicht. Diese Unmittelbarkeit finde ich sehr wichtig. Musikalisch gesehen ist „Neue Musik“ ein Regenschirmbegriff, der eine ungemein große Vielfalt von Ästhetiken und Ansätzen enthält. Die Suche nach neuen Ausdrucksformen und Klangwelten, die den meisten gemeinsam ist, führt in die unterschiedlichsten Richtungen und bietet schier unendlich viele anregende, berührende und interessante musikalische Erfahrungen. Zudem lassen sich heutige Künstler:innen auch selbst erleben, kennenlernen, man kann sich mit ihnen austauschen – das können Sie nicht mit Beethoven oder Stravinsky. Durch meine Tätigkeit bin ich oft sehr nah dran am Schaffensprozess und erlebe oder habe Teil an der Entstehung von neuen Kompositionen oder Projekten. Das ist sehr bereichernd und das wollte ich nie missen.

Sie wollen die Musiktage Donaueschingen noch stärker als bisher internationalisieren und spezielle Themenschwerpunkte setzen, in dem Sie programmatische Überschriften setzen wollen. Können Sie uns dazu einen Einblick in Ihre Ideen und Konzepte geben?
Jede Festivalausgabe dreht sich um ein bestimmtes Thema und bietet unterschiedliche künstlerische Positionen zu und Perspektiven auf dieses Thema. In diesem Jahr widmet sich das Festival unter dem Titel „collaboration“ künstlerischen Zusammenarbeiten.
Das Bild des Künstlergenies, der einsam in seinem Atelier komponiert und die Partitur erst nach Vollendung für die Aufführung Musiker*innen übergibt, ist sehr verbreitet. Tatsächlich spielen kollaborative Praktiken, die in anderen Künsten wie Performance oder Tanz gang und gäbe sind, auch in der zeitgenössischen Musik eine große Rolle. Diese Praktiken gehen immer mit Improvisation im Sinne von spontanem Agieren und Interagieren einher. Das Festival stellt diese Entwicklungen ins Zentrum des Programms und hat Komponist:innen zwischen 25 und 91 Jahren eingeladen, ihre künstlerische Zusammenarbeiten beim Festival vorzustellen. Das Spektrum reicht dabei von Kollektiven, in denen alle gleichermaßen komponieren und aufführen, über Vertreterinnen verschiedener Künste bis zu Composer performern, die für sich selbst und weitere Musiker:innen komponieren und bei denen die Trennung von Komponist und Interpret überhaupt keine Rolle mehr spielt.

Ein weiteres Ziel von Ihnen ist es den virtuellen Raum noch stärker als bisher für die Festspiele zu nutzen. Sieht das Konzept dazu eigenständige Projekte vor oder sollen diese eher kooperativ mit den Werken, die in Donaueschingen aufgeführt werden, korrespondieren?
Es wird in Zukunft sowohl eigenständige Werke geben als auch solche, die teilweise digital und teilweise vor Ort stattfinden, also die verschiedenen Räume verbinden und die jeweils spezifischen Möglichkeiten künstlerisch nutzen.

Nach wie vor gibt es im Konzertbetrieb die Angst der Veranstalter
das Publikum mit Neuer Musik zu vergraulen – Ein Vorurteil?
Es kommt sehr darauf an, wie man zeitgenössische Musik einbindet. Ich habe immer wieder erlebt, wie enthusiastisch und offen Publika „klassischer“ Musik auf zeitgenössische Werke reagieren können.
Aber wenn nur einmal im Jahr etwas Zeitgenössisches auf dem Programm steht, ist das natürlich viel stärker ein Fremdkörper im klassischen Programm, als wenn ein Orchester Zeitgenössisches zu seinem musikalischen Selbstverständnis zählt, regelmäßig neuere Werke spielt und dem Publikum auch systematisch Anbindungspunkte bietet – durch Begegnungen mit Komponisten, Gespräche usw. Es bedarf da auch einer langfristigeren Perspektive. Es gibt genug Beispiele, die zeigen, dass ein gutes Konzept und Zeit sehr viel bewegen können. Mehr Mut würde dem Konzertbetrieb auf jeden Fall guttun.

Wie sieht denn eigentlich Besucherentwicklung bei Neuer Musik
aus? Gibt es dazu Zahlen und Statistiken? Haben Sie den Eindruck,
dass der Zuspruch bei der jungen Generation größer ist?
Zeitgenössische Musik wird in den unterschiedlichsten Szenen aufgeführt und gehört – in der Kölner Philharmonie wie in kleinen Bars in London oder ehemals industriellen Gebäuden rund um Paris, um nur wenige Beispiele zu geben. Da ist es unmöglich, Zahlen und Statistiken zu erheben, die das alles abdecken. Grundsätzlich erfreuen sich zeitgenössische Musikszenen nach meinem Eindruck aber sehr großem Interesse junger Generationen. Um nur ein Beispiel zu geben: Ich war gerade beim Festival Musica in Strasbourg, wo ich mit 43 Jahren zu den älteren Besucherinnen gehörte. Dort ist es gelungen, ein sehr junges und enthusiastisches Publikum für das Festival zu gewinnen.

Sie wollen vor allem neue Orchesterwerke, die hier uraufgeführt werden, davor bewahren künftig wieder in die Versenkung zu verschwinden. Wie wollen Sie das anstellen?
Vor allem durch die Zusammenarbeit mit anderen Orchestern und Festivals, mit denen die Werke gemeinsam in Auftrag gegeben werden. Auf diese Weise werden neue Werke sofort in die Welt hinausgetragen und gehen ihren Weg weiter.

Eine provokante Frage: sollte man nicht eher statt neuer Programme und Konzepte zu entwerfen stattdessen noch mehr das Phänomen hinterfragen, warum immer noch so viele Menschen Schwellenangst vor zeitgenössischer Musik haben, diese gar ganz ablehnen und was man dagegen tun könnte? Müsste man nicht viel mehr Vermittlungsarbeit leisten, um Barrieren abzubauen?
Das eine schließt das andere nicht aus. Es wäre grundsätzlich falsch, nur noch das Bestehende vermitteln zu wollen und dafür die Schaffung von neuen Werken und Projekten aufzugeben. Dies gilt ganz besonders für ein Festival wie die Donaueschinger Musiktage, die seit 102 Jahre neueste Werke vorstellen. Die Funktion des Festivals besteht gerade darin, neue Kompositionen, Projekte und Zusammenarbeiten zu initiieren, zu ermöglichen, aufzuführen und zur Diskussion zu stellen. Zugleich liegt mir sehr viel an Vermittlung und daran, Barrieren abzubauen.
Ich habe dafür ein ganzes Programm entwickelt. Für eine siebte Klasse haben wir einen Kompositionsworkshop entwickelt, der die Kinder einlädt, selbst zu komponieren. Neben einer Reihe von Künstler:innengesprächen bieten wir außerdem öffentliche und kostenlose Führungen durch die vier Klanginstallationen des Festival an. Wir haben zwei Schulklassen zur Begegnung mit einer der Klangkünstlerinnen eingeladen. Und schließlich habe ich den Vorzugspreis für alle Bewohner:innen des Schwarzwald-Baar-Kreises eingeführt. Für alle Konzerte bezahlen sie nur 12 EUR – das ist oft weniger als eine Kinokarte. Damit möchte ich zum einen zeigen, wie sehr es uns am Herzen liegt, dass die Menschen vor Ort das Festival auch selbst erleben, und zum anderen die Schwelle senken und Neugierige ermuntern, tatsächlich ins Konzert zu kommen.

Sie wollen einen „Open Call“ für Donaueschingen ins Leben rufen. Was steckt hinter der Idee?
Die Donaueschinger Musiktage haben seit vielen Jahren eine Notenausstellung, in der Verlage neueste Partituren, Bücher, CDs etc. ausstellen. Viele, und zwar zunehmend immer mehr, Komponist:innen haben aber keinen Verlag und konnte daher gar nicht präsent sein. Der Call for scores hat alle interessierten Komponist:innen eingeladen, Partituren einzusenden, die dann in der Ausstellung präsentiert werden. Das ist für mich ein wichtiger Weg, Stimmen, die bisher nicht präsent waren, Raum zu geben und die Notenausstellung zu öffnen.

Liebe Lydia Rilling: Wir danken Ihnen für das Gespräch!