Friedrich Schirmer

Lieblingsstücke, wie soll ich das definieren? Der Begriff zerfällt ja in „Liebling“ und „Stücke“ und er setzt gleichzeitig eine unglaubliche Fülle von „etwas“ voraus, aus dem sich dann „Lieblingsstücke“ herauskristallisieren
können. Stücke sind nicht: Bücher und Bilder, dagegen sehr wohl Briefmarken, Antiquitäten, Skulpturen, Kunstobjekte, Kleider, Autos, Münzen, Bierdeckel, Streichholzschachteln, Kronkorken usw. usw. Musik und Theaterliteratur dagegen kann man in Einzelstücke zerlegen.
Aber schon aus dem unüberschaubaren Meer der populären Musik etwa eine definitive Auswahl von Lieblingsstücken zu treffen, fällt mir unsagbar schwer.
Mein Lieblingsstück von den Beatles? Den Stones? Den Kinks? Oder von Bob Dylan – im Original oder kongenial interpretiert? Und wenn ich sie wüsste, wie komponiere ich diese „Lieblinge“? In welcher Reihenfolge ergänzen sie sich? Wie kommen sie gegenseitig zur Entfaltung, ohne sich zu neutralisieren? Und: Der Begriff Lieblingsstück suggeriert etwas Konstantes, Beständiges – welch eine Illusion. Mein Geschmack, meine Vorlieben ändern sich täglich, zwar nur unmerklich, aber sie ändern sich.

Es braucht auch immer Raum in mir für das bis dahin Unbekannte, noch nicht Erfahrene, das Unerhörte. Darin bleibe ich mir treu. Also bleibt heute – 23. November 2015, 12.45 Uhr – nur eine Konstante: die Liste der Musikstücke, die Sie vielleicht einmal bei meiner Beisetzung hören werden, aber davon haben weder Sie noch ich wirklich etwas – denn wir beide werden bei dem Ereignis vielleicht gar nicht zugegen sein. Wenden wir uns also einem weiteren unüberschaubaren, unendlich weiten Feld zu: der Theaterliteratur, die ja nun wirklich in „Stücke“ zerfällt bzw. sich aus ihnen zusammensetzt. Ich habe keine Vorstellung, wie viele Theatertexte es wirklich gibt – seitdem die Menschheit spielend sich selbst erkundet und reflektiert. Wie viele nur mündlich übertragen, wie viele tatsächlich aufgeschrieben, verloren, verbrannt, wiedergefunden, gedruckt und bewahrt wurden. Müßig der Versuch, sie zu ordnen, sie katalogisch zu erfassen. Jährlich kommen unglaublich viele neue hinzu, alte Texte verschwinden, kommen wieder, nur „Klassiker“ bleiben. Was aus der Stückproduktion der letzten Jahrzehnte wirklich bleiben und ein „Klassiker“ werden wird, können wir heute nicht beantworten.
„Lieblingsstücke“ sind für mich diejenigen, die plötzlich aus diesem unendlichen Ozean, aus den Bereichen des Bekannten des einstmals Gelesenen und aus der Tiefe des Unbekannten, des noch nicht Gelesenen auftauchen. Zuvor schlummern sie einerseits wohl geordnet von A bis Z in meiner Theaterbibliothek, die in der Esslinger Dramaturgie ein zeitweiliges Refugium gefunden hat, und andererseits ungeordnet in Regalen und den Umzugskartons, die sich noch in meinem Büro stapeln. Und plötzlich, auf unerklärliche Weise, geraten sie wieder in das Zentrum meiner Wahrnehmung. Gelesen, geprüft, wieder verworfen, dann doch weitergereicht an meine jungen Kollegen und Kolleginnen in der Dramaturgie. Vorschläge, Gegenvorschläge, Zustimmung, Ablehnung – es bleibt immer die Frage: Wann und wie ergeben unsere „Leseperlen“ eine strahlende vielversprechende „Spielplankette“ für unser Publikum? Und wann eben nicht? Dies ständig nicht nur zu reflektieren, sondern auch ausprobieren zu dürfen, ist ein großes Lebensgeschenk.Ich bin dankbar dafür.

Friedrich Schirmer 1951 in Köln geboren, begann seine Theaterlaufbahn unmittelbar nach dem Abitur 1970 als Assistent und Dramaturg am Westfälischen Landestheater Castrop-Rauxel. Sein Weg führte ihn anschließend über die Freie Volksbühne Berlin, die Städtischen Bühnen Nürnberg, das
Nationaltheater Mannheim und die Städtischen Bühnen Dortmund zu seiner ersten Intendanz an der Württembergischen Landesbühne Esslingen (ab 1985). 1989 wurde Friedrich Schirmer Intendant der Städtischen Bühnen Freiburg. Von 1993 bis 2005 leitete er als Intendant das Schauspiel Staatstheater Stuttgart. Seit der Spielzeit 2005/2006 war Friedrich Schirmer Intendant des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg. Im Herbst 2012 wurde er wieder zum Intendanten der
Württembergischen Landesbühne Esslingen berufen. Sein neues und altes Amt hat er zu Beginn der Spielzeit 2014/2015 angetreten.