Annette Pehnt

Mein Liebling will er nicht sein, und am Stück kriege ich ihn nicht zu fassen. Es gibt viele andere neben ihm, aber ihm bin ich treu geblieben. Er wandert durch die Künste, und ich erkenne ihn immer, ganz gleich, welche Gestalt er annimmt.
Zum ersten Mal bin ich ihm als Kind begegnet, angelehnt an die schwerhörige Großtante, die der Fünfjährigen geduldig immer das gleiche Buch vorlas, zwischen uns auf dem Sofa eine Schale mit Marzipankartoffeln: die ‚Mumins‘ von Tove Jansson, der finnische Klassiker über eine Familie von rundnasigen, zipfelohrigen Trollen. Sie trieben vergnügliche und spannende Dinge, ritten auf Wolken, flohen vor dem Kometen; am Rand dieser unverzagten Gesellschaft lebte der Schnupferich. Er war allein, frei und rätselhaft, zwar Mumins bester Freund, aber zählen konnte man auf ihn nicht. Während die Mumins in den Winterschlaf sanken, machte der Schnupferich sich auf Wanderschaft. Er kam und ging; man wusste nie, wann er zurückkehrte, schweigsam, hellwach, ein wenig fremd, und doch ein weiser Freund. Der unstete Geselle, der andere mochte, aber nicht brauchte, war mir nicht geheuer und mir doch von allen der nächste.
Später traf ich ihn im Museum wieder. Er hatte gewaltig abgenommen und lebte auf großem Fuße. Giacometti hatte ihn zum schmalen Schatten seiner selbst gemacht. Allen Zierrat hatte er abgelegt. Kein Name mehr, keine Verpackung. Den hübschen Krempenhut des Schnupferichs hatte er im Mumintal zurückgelassen. Überhaupt erinnerte er sich an nichts. Allein, mit scharfen Zügen und eingetrocknet auf das Wesentliche, stand er auf seinem Sockel, den er jeden Moment verlassen würde. Nur der schwere Fuß hielt ihn an seinem Platz. Freundschaften und Bündnisse waren undenkbar geworden. Er ließ sich weder gießen noch anleinen und verweigerte das Futter. Vermutlich war er sogar bissig geworden. Seine Beine waren so lang, dass ihm alle Richtungen offenstanden; es konnte auch sein, dass der Wind ihn packen und davontragen würde wie einen Zweig, der nirgendwo Wurzeln schlägt.
Als ich in Irland in den Bibliotheken stöberte, fand ich ihn wieder. Nun war er noch scheuer geworden. Er hieß jetzt Sweeney und hatte sich Federn zugelegt, um rascher abheben zu können. Die mittelalterliche Handschrift erzählt, knapp und skizzenhaft, wie er vor den Menschen, ihren Kriegen und Machtspielen floh, sich in den Wald zurückzog und von Wasserkresse lebte. Er lernte, das Essbare vom Giftigen zu unterscheiden. Seine Ohren wurden fein, seine Glieder dürr und flink. Unter den Tieren war er ein Tier, für die Menschen nur ein Schatten in den Zweigen, die flüchtige Ahnung eines anderen Lebens. Nur wenn der Hunger zu groß wurde, kam er in die Nähe eines Klosters. Der Mönch Ronán wartete Zeit seines Lebens auf ihn. Er füllte ihm Milch in eine Lehmkuhle; dort trank Sweeney und starb mit dem Gesicht in der Milch.
Zeiten und Sprachen sind ihm egal. Aufdringlich ist er nicht, man bemerkt ihn kaum; wenn man ihn zum Freund haben will, sollte man ihn erwarten, aber nicht suchen.
In der alten irischen Prachthandschrift ‚Book of Kells‘ sitzt er als schmales Geschöpf, verdeckt hinter Blattwerk, gut verborgen im Ornament der Buchmalerei. Van Morrison singt ihm hinterher; im irischen Folk gibt es ein Stück für ihn, den Reel ‚Sweeney’s Dream‘. Selbst in barocken Sonaten taucht er auf als der Irrläufer, der verschobene Klang, die schräge Harmonie; wenn sich die Musik im prächtigen und wohlgefälligen Schlussakkord zur Ruhe setzt, ist er längst verschwunden.
Auch in Romane hat er sich eingeschmuggelt. Neulich stieß ich auf ihn in J.M. Coetzees ‚Leben und Zeit des Michael K‘. Nur ein Buchstabe als Name, das passt zu ihm. Im allegorisch verkarsteten Hinterland eines fiktiven Südafrika verbirgt er sich vor Häschern und Ausbeutern, Kriegmachern und dem Zugriff der Verwaltung in Höhlen und Nischen. Er ist so genügsam wie eine Bergziege und genauso flink. Auch halb verhungert bleibt er immer in Bewegung; selbst von Maschendraht und anderen Grenzen lässt er sich nicht aufhalten.
Die Form, die er wählt, ist die Lakonie. Über ihn lässt sich nicht plaudern und schlecht scherzen. Schweigen ist sein Gesang, und wer ihn hört, kann ihn nicht beschreiben. Deswegen gibt es von ihm nicht viel zu erzählen, sondern Weniges und Unvermeidliches. Gern taucht er aus dem Nichts auf, in der flüchtigen Drehung eines Mobiles von Calder oder in der Stille von John Cage. Italo Calvino hat ihm in seinen ‚Sechs Vorschlägen für das nächste Jahrtausend‘ das Kapitel über die Leichtigkeit gewidmet.
Wer ihn einmal gesehen hat, will ihm hinterher. Aber um ihm zu folgen, muss man alles ablegen. Das schaffen die wenigsten und sicher nicht ich. Also bleibe ich auf der Hut, ihm auf der Spur. Und irgendwann wird Spurenlesen zu Spurenschreiben.

Die Schriftstellerin Annette Pehnt wurde im Juli 2017 in Stuttgart mit dem Kulturpreis Baden-Württemberg 2017 ausgezeichnet. Der Kulturpreis wird alle zwei Jahre von der Baden-Württemberg Stiftung und den Volksbanken Raiffeisenbanken verliehen und mit 20 000 Euro dotiert (Hauptpreis).
Bei der festlichen Preisverleihung bedankte sich Annette Pehnt mit den Worten: „Ich zweifle an allem und jedem, aber nicht am Schreiben, das zu mir gehört – hoffentlich so lange es mich gibt. Beim Schreiben habe ich vieles ausprobiert, mich auch vom Schreibtisch wegbewegt. Dieser Preis bestätigt, dass die Erfüllung des literarischen Auftrags überall stattfinden kann.”
Annette Pehnt, 1964 in Köln geboren, ist Autorin von Kinder- und Erwachsenenliteratur und lebt in Freiburg im Breisgau. Der Stiftungsrat prämiert mit Annette Pehnt eine Schriftstellerin, „deren Bücher Teil einer sozialen und kulturpolitischen Wahrnehmung sind, die ihr Frage und Antwort in einem bedeuten und mit denen sie auf anderen literaturrelevanten Gebieten nicht minder anregende Akzente setzt.“ Besonders ihre ausgezeichneten Kinderbücher und ihre Reflexionen des Literatur- und Bildungsbetriebs stünden für eine Haltung, die benennt, sich einmischt und Visionen entwirft, so die Begründung der Jury.
Über den Preis: Die im Jahr 2002 gegründete Stiftung Kulturpreis Baden-Württemberg der Volksbanken Raiffeisenbanken und der Baden-Württemberg Stiftung vergibt den Kulturpreis alle zwei Jahre im thematischen Wechsel. Er ist mit insgesamt 25.000 Euro dotiert und teilt sich in einen Haupt- und einen Förderpreis. Ausgezeichnet werden herausragende Leistungen in den Bereichen Bildende Kunst, Darstellende Kunst, Film/Neue Medien, Literatur und Musik. Preisträger des Kulturpreises Baden-Württemberg müssen einen erkennbaren Bezug zum Land Baden-Württemberg aufweisen und zeichnen sich durch ihre Kreativität, Einzigartigkeit und ihr Wirken in Baden-Württemberg bzw. ihre Bedeutung für das Land aus.

Foto: Gesine Bänfer