Sibylle Berg ist eine der schillerndsten und schonungslosesten Akteurinnen des deutschsprachigen Literaturbetriebs. Kritiker haben sich für die in Zürich lebende Autorin, Dramatikerin und vielgelesene Kolumnistin zahlreiche zänkische Zuschreibungen ausgedacht. „Fachfrau für Zynismus“, „Designerin des Schreckens“, „moralinsaures Monster“, „über Leichen latschende Schlampe“, „Höllenfürstin des Theaters“, „Kassandra des Klamauk-Zeitalters“ oder „Hasspredigerin der Singlegesellschaft“ sind nur einige davon. Viele der Kritiker sind männlich, die es außerdem selten versäumen, ihre Kritik unprofessionell auf Auftritt und Erscheinung der Autorin auszuweiten.
Ihr selbst ist das „zu 99% Stulle“. „Dieser große Drang Menschen anhand von Alter, Gewicht, Nation, Beruf, Ausbildung und Schuhgröße erklärbar machen zu wollen, ist eine drollige Drolligkeit des Menschen, der ich mit der unbedingten Lüge begegne“, sagte sie einmal in einem Interview für „Cascade, Magazin der erfreulichen Dinge“.
Die Autorin von zehn Romanen und zwölf Theaterstücken erforscht bereits seit ihrem1997 erschienener Erstling „Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot“ mit seismographischer Wachheit und schonungslosem Blick das Leben, die Menschen und ihre Beziehungen. Erzählerisch innovativ und sprachgewaltig sorgt sich die in Weimar geborene Schriftstellerin um den Zustand der Welt und konfrontiert ihre Leserinnen und Leser erbarmungslos und ironisch mit den großen Themen der Gegenwart – dem globalen Kapitalismus und seinen Auswüchsen, dem Neoliberalismus, der immer größer werdenden Kluft zwischen Arm und Reich, dem nie verschwundenen und derzeit verstärkt aufflammenden Faschismus, der Klimaerwärmung, der Gefahr der Überwachung, der Verknappung des Wohnraums, dem befürchteten Wegfall von Arbeitsplätzen und der Gefährdung sozialer Bindungen durch die fortschreitende Digitalisierung. Diese Frau stellt schonungslos Fragen, auf die bisher keiner eine wirkliche Antwort hat. Auch ihr neuster Roman „GRM. Brainfuck“ (2019) kann mittelschwere Depressionen auslösen. Er beginnt in Rochdale, Großbritannien, wo der Kapitalismus einst erfunden wurde. Hier hat der Neoliberalismus besonders gründliche Arbeit geleistet. Die Helden sind vier Kinder, die nichts anderes kennen als die Realität des gescheiterten Staates. Ihr Essen kommt von privaten Hilfswerken, ihre Eltern haben längst aufgegeben. Die Hoffnung, in die sich die vier flüchten, ist Grime, kurz GRM, die größte musikalische Revolution seit dem Punk. Als die vier begreifen, dass es für sie zuhause definitiv keine Hoffnung gibt, brechen sie nach London auf. Hier scheinen Zukunftsversprechungen umgesetzt. Jeder, der sich einen Registrierungschip einpflanzen lässt, erhält ein Grundeinkommen. Die Bevölkerung lebt in einer perfekten Überwachungsdiktatur. Auf der Straße bleibt nur der asoziale, vogelfreie Abschaum zurück. Hier starten die vier ihre eigene Revolution und versuchen außerhalb des Systems zu überleben… Leser und Leserinnen blicken ohne Netz und doppelten Boden in den unbarmherzigen Spiegel der Sibylle Berg!
Übrigens: Zu den Lesungen der Autorin kommen mehr Männer als Frauen. Weiterer Funfact: Auch die erwähnten Kritiker sind überwiegend männlichen Geschlechts. Woran das liegt, lässt sich nur vermuten. Wahrscheinlich verkörpert Sibylle Berg durch ihr literarisches Schaffen ein Weiblichkeitsbild, das noch immer polarisiert und mit dem viele schlicht überfordert sind: Eine Frau, die kein Blatt vor den Mund nimmt, ihren Finger immer wieder unbarmherzig und direkt auf die offenen Wunden legt, ist noch immer eine Zumutung! Umso großartiger, dass die vielfach ausgezeichnete optimistische Zweckpessimistin den nächsten verdienten Literaturpreis erhält: den Johann-Peter-Hebel-Preis 2020.
Ein Beitrag von Susanne Heeber
Johann-Peter-Hebel-Preis
Der mit 10.000 Euro dotierte Preis wird alle 2 Jahre im Rahmen des Johann Peter Hebel Fests vergeben. Zu den bisherigen Preisträgerinnen und Preisträgern gehören Christoph Meckel, Lukas Bärfuss, Karl-Heinz Ott, Arnold Stadler, Arno Geiger, Emma Guntz, Claude Vigée, Elias Canetti, Marie Luise Kaschnitz, Martin Heidegger, Carl Jacob Burckhardt, Otto Flake, Max Picard und Albert Schweitzer. Aufgrund der Corona-Pandemie ist die Verleihung auf Mai 2021 verschoben worden.
Sibylle Berg wurde 1962 in Weimar geboren und lebt seit 1995 in Zürich. Sie studierte unter anderem Ozeanographie und Politikwissenschaften an der Universität Hamburg. Ihr Werk, das in 34 Sprachen übersetzt wurde, umfasst Theaterstücke, Romane, Hörspiele und Essays. Berg wurde vielfach ausgezeichnet, in letzter Zeit u. a. mit dem Kassler Literaturpreis für grotesken Humor (2019), dem Nestroy-Theaterpreis (2019), dem Schweizer Buchpreis (2019), dem Bertolt-Brecht-Preis (2020) und dem Schweizer Grand Prix Literatur (2020).
Mehr über die Autorin: www.sibylleberg.com
Buch-Tipp: GRM - Brainfuck. der neueste Roman von Sybille Berg Die Brave New World findet in wenigen Jahren statt. Vielleicht hat sie auch schon begonnen. Jeden Tag wird ein anderes westliches Land autokratisch. Algorithmen, die den Menschen ersetzen, liegen als Drohung in der Luft. Großbritannien, wo der Kapitalismus einst erfunden wurde, hat ihn inzwischen perfektioniert. Aber vier Kinder spielen da nicht mit – sondern gegen die Regeln. Und das mit aller Konsequenz. Sibylle Bergs neuer Roman beginnt in Rochdale, UK, wo der Neoliberalismus besonders gründliche Arbeit geleistet hat. Die Helden: vier Kinder, die nichts anderes kennen als die Realität des gescheiterten Staates. Ihr Essen kommt von privaten Hilfswerken, ihre Eltern haben längst aufgegeben. Die Hoffnung, in die sie sich flüchten, ist Grime, kurz GRM. Grime ist die größte musikalische Revolution seit dem Punk. Grime bringt jeden Tag neue YouTube-Stars hervor, Grime liefert immer neue Role-Models. Als die vier begreifen, dass es zu Hause keine Hoffnung für sie gibt, brechen sie nach London auf. Hier scheint sich das Versprechen der Zukunft eingelöst zu haben. Jeder, der sich einen Registrierungschip einpflanzen lässt, erhält ein wunderbares Grundeinkommen. Die Bevölkerung lebt in einer perfekten Überwachungsdiktatur. Auf der Straße bleibt nur der asoziale, vogelfreie Abschaum zurück. Die vier Kinder aber – die fast keine Kinder mehr sind –, versuchen außerhalb des Systems zu überleben. Sie starten ihre eigene Art der Revolution. Erschienen ist das Buch im kiwi Verlag