mehr / nicht weniger als diese Gedichte

Lyrik – so unsere Autorin Susanne Heeber – sei eigentlich nicht so ihr Ding. Aber als sie für diese Ausgabe diesen Beitrag über den Lyriker, Theatermacher, Schauspieler und Verleger Dinçer Güçyeter verfasste , änderte sie ihre Meinung und mit jeder Zeile wuchs die Begeisterung. Kein Wunder, denn Güçyeter sorgt mit seinen so ganz anderen Gedichten in der Literaturszene für Furore – so sehr, dass ihn die Jury des renommierten Peter Huchel-Preises für seinen Lyrikband „Mein Prinz, ich bin das Ghetto“ in diesem Jahr ausgezeichnet hat… Doch lesen Sie selbst!

Dinçer Güçyeter, Foto: Palagrafie / Metehan Pala

Am Anfang des Porträts steht ein Bekenntnis: Lyrik war bisher nicht unbedingt mein Steckenpferd. Doch dann las ich Zeilen wie:
Ich bin ein deutscher Dichter (Bastard) mit
Migrationshintergrund…
den Weihnachtsbaum schmücke ich mit Feigen / Datteln und Dönerblättchen /
mein Pony füttere ich mit Gummibärchen…
Und:
müde sitzt sie am Küchentisch
ihre Schultern hängen wie eine Seilbrücke
zwischen zwei entschwundenen Heimaten
Oder:
Yilmaaaaaaaz!
Bring du das Kind zum Friseur, morgen ist Zuckerfest
So hat die Cleopatra des Hauses befohlen
Und mir fehlten schlicht und ergreifend die Worte, angesichts dieser „expressionistischen Sprachwucht und feinsinnigen Ambivalenz“, die „familiäre, soziale und kulturelle Verortungen sowie postpatriarchale Möglichkeiten einer souveränen Existenz“ verhandeln – so auch die Begründung der Jury.
Auf den Seiten der Titelei fragt ein Junge:
Vater, Mutter, wohin jetzt mit mir
Und weiter:
wohin mit diesen Gedichten
„Er schickt sie auf den Weg zu Lesenden, die bereit sind, den Habitus von Gedichten und Dichter-Existenzen zu hinterfragen“, konstatiert die Jury dazu.

Die Gedichte sind umwerfend, echte Knaller! Sie sind mal kurz und lakonisch, mal in Dialogform, mal versetzt mit gesellschaftspolitischen Positionen zu den Themen Migration und Integration. Es sind die Stimmen von Güçyeters Großmutter und seinen Eltern zu hören, die als sogenannte „Gastarbeiter“ aus der Türkei nach Deutschland kamen. Seine Lyrik beinhaltet aber auch eigene Fremdheits-Erfahrungen, auch, weil er schon immer spürte, dass er sich ganz besonders anstrengen muss, um einen Fußabdruck in der Kulturszene zu hinterlassen.
Und, es ist ihm gelungen!

der Spiegel
ich bin es, die Schwester des Berges / weißt du / auf einem Bild von mir, als Kind / über meiner Stirn lächelte ein Koala-Aufkleber / ich bin es / der Falschgeborene / der verstohlene Bastard Heras / entführt und transportiert ins 20. Jahrhundert in einem Gastarbeiterkoffer zwischen Leerraum und Ängsten, transportiert hier nach Deutschland / ich bin es / Dinçer / die Schwester des Berges / meine erste Tat auf dieser Welt: Raqib und Atid, die albernen Beamten Gottes zu bestechen / ich habe den beiden den Trailer meiner Geschichte gezeigt / etwas gefälschte Güte&Sünde in ihre Hände gedrückt / gebeten, mich in Ruhe zu lassen / gute Kerle, die Beiden / sie wissen auch / Widerstand gegen eine Menschenseele, in der Realität sowie in der Mythologie, bleibt immer ein Minusgeschäft / seitdem sitze ich hier / vor deinem irritierten Reflektieren / du verstehst nicht, wieso ich den Zeitstrahl durch mein Leben ablehne / ich auch nicht, ist auch irrelevant / aber du weißt, du, verstaubter Spiegel, du bist mein Ablagerungsmilieu / ich das Fossil, das seit Ewigkeiten in dir nach einer schützenden Bedeutung sucht / bevor ich vor dir stand, steckte ich so als Mikro-Ding in einem wandernden Gletscher / habe vor dem Pascha der Eisbären einen Eid gesprochen / dass ich jede Treue verabscheuen werde / ich habe mein Wort gehalten, frage mich bitte nicht / warum jetzt die Eisberge, die Steppen mit Blut gefüllt sind / warum ich dir das alles schreibe? / ich habe vor ein paar Tagen ein verbranntes Koalagesicht gesehen / deshalb / alles wird beim Alten bleiben / der Eid / die onanierende Reflektion / der Stein- schlag auf meiner Brust / die Flamme über meiner Stirn . / ich bin es / die Schwester des Berges .

Dinçer Güçyeter (aus Dinçer Güçyeter: Mein Prinz, ich bin das Ghetto,
ELIF VERLAG, ISBN 978-394-6-989-42-4)

ELIF Verlag – unwahrscheinliche Lyrik seit 2011

Dinçer Güçyeters preisgekrönter Gedichtband „Mein Prinz, ich bin das Ghetto“, ist bereits sein vierter Gedichtband und wurde im Elif-Verlag publiziert. Den hat der Autor selbst 2011 gegründet. Er ist zwar klein, aber doch selbstbewusst und versammelt poetische Positionen, die das Feld vom Rand her aufrollen. Veröffentlicht werden Debüts und Alterswerke, Lyrik, die aus der Gegenwart in die Gegenwart spricht, in Deutsch und jeder anderen Sprache, in der sich Gedichte schreiben lassen. Es sind bereits 60 liebevoll gestaltete Bände erschienen.

Nachdem ich meine Sprache wiedergefunden habe, bleibt nur zu wünschen, dass der sympathische Lyriker und Verleger Dinçer Güçyeter noch lange so weitermacht.

Ein Beitrag von Susanne Heeber

Der Theatermacher, Schauspieler, Lyriker und Verleger Dinçer Güçyeter wurde 1979 in Nettetal/Lobberich geboren. Von 1996 bis 2000 absolvierte er eine Ausbildung als Werkzeugmechaniker. Im Jahr 2011 gründete er den ELIF Verlag, den er bis heute als Gabelstaplerfahrer in Teilzeit finanziert. Bisher sind im ELIF Verlag erschienen: Ein Glas Leben. Gedichte (2011), Die geschminkte Möwe. Gedichte. CD (2012), Anatolien Blues. Gedichte (2012) und Aus Glut geschnitzt. Gedichte (2017) und Mein Prinz, ich bin das Ghetto (2021).

Peter Huchel-Preis
Der vom Land Baden-Württemberg und dem Südwestrundfunk gestiftete Peter-Huchel-Preis für deutschsprachige Lyrik wird seit 1984 für ein herausragendes lyrisches Werk des vergangenen Jahres verliehen und ist mit 10.000 Euro dotiert. Peter Huchel (geboren 1903 in Lichterfeld, Berlin und gestorben 1981 in Staufen, Breisgau) verfasste politisch-verschlüsselte Naturgedichte. Seine Lyrik ist vom Naturerlebnis seiner märkischen Heimat geprägt, die präzise und schlichte Sprache generiert einprägsam kraftvolle Bilder. Obwohl er nur fünf schmale Gedichtbände herausgab, gehört er unbestritten zu den bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikern des 20. Jahrhunderts. Außerdem wirkte Huchel als Chefredakteur der Kulturzeitschrift „Sinn und Form“, die die Literatur in der DDR nachhaltig prägte.
Bisherige Preisträger und Preisträgerinnen waren u .a. Manfred Peter Hein, Guntram Vesper, Elke Erb, Ernst Jandl, Sarah Kirsch, Durs Grünbein, Raoul Schrott, Nicolas Born (postum), Friederike Mayröcker, Nora Bossong und im letzten Jahr Marcel Beyer.