Bühne des Lebens

In ihrem neuen Roman stellt die preisgekrönte Bestsellerautorin Anna Katharina Hahn einen Stuttgarter Chor als Spiegel einer ganzen Stadtgesellschaft in den Mittelpunkt. Einfühlsam, aber auch unerbittlich porträtiert sie Frauen aus drei Generationen, die Teil eines fiktiven Freizeitchors sind. Es geht um Freundschaft, Rivalität, Eifersucht und natürlich um die Musik!

Anna Katharina Hahn © Heike Steinweg/Suhrkamp Verlag.

Ihr Roman dreht sich – der Titel verrät es – um einen Chor, genaugenommen ein Frauenchor. Warum haben Sie diesen Chor ins Zentrum Ihrer Erzählung gestellt?
Im Grunde ist jeder Chor, egal von welcher Qualität, ein Wagnis. Nicht nur für seine Leiterinnen und Leiter, sondern für alle, die sich entscheiden, mitzusingen: Man muss vor die Tür gehen, fremde Leute treffen, aus anderen Stadtteilen, Ländern, sozialen Schichten, sich vor sie hinstellen, den Mund aufmachen, die eigene Stimme einsetzen, in den Pausen aufeinander zugehen, gemeinsam viele Stunden verbringen. Selbstverständlich spiegelt die Welt der Chöre auf den ersten Blick eher die starke Aufsplitterung unserer Gesellschaft wider: in Profis und Laien, highbrow und lowbrow, in Geschlechter, Berufsgruppen, Konfessionen, sexuelle Orientierungen. Aber ein unambitionierter Freizeitchor wie meine ›Cantarinen‹ bringt Leute zusammen, die einander unter anderen Umständen nie getroffen hätten. Genau hier beginnt das erzählerische Abenteuer. Mir ist es wichtig, auch Figuren zu erschaffen, die nicht in meinem Alter sind oder meinem Milieu angehören. Natürlich bin ich keine realistische Schriftstellerin, aber ich fühle mich durch und durch der Gegenwart verpflichtet, der Darstellung von Ausschnitten aus unserem Leben. Dafür habe ich in diesem Roman einen Frauenchor gewählt.
Im Chor treffen sehr verschiedene Persönlichkeiten aus mehreren Generationen aufeinander – ist Der Chor auch ein Roman über die Verständigung zwischen Generationen?
Der Chor führt, wie alle meine Romane, eine Vielzahl von Themen zusammen. Freundschaften und Abneigungen entstehen in diesem Gefüge, alle Figuren suchen nach Erlösung durch andere. Einsamkeit ist ein großes Thema, die Verlassenheit der Alten wie der Jungen, auch das Alleinsein zu zweit in der Ehe. Während der Coronazeit hat sich dieses Problem mitunter bis zur Lebensgefahr verschärft.
Freundschaft ist ein wichtiges Thema Ihres Romans. Worauf kommt es Ihnen in einer guten Freundschaft an?
Die Freundschaften zwischen diesen singenden Frauen, die einander zärtlich »Chorschwestern« nennen, sind zentral für den Roman. Aber Freundschaften können komplexe und gefährliche Angelegenheiten sein, ähnlich schwierig wie Liebesbeziehungen. Und ohne Liebe im besten Sinne funktioniert keine Freundschaft, oder?
Welche Bedeutung hat für Sie Stuttgart als Handlungsort des Romans? Könnte das Buch auch in jeder anderen Großstadt spielen?
Meine Figuren könnten sicher in jeder westlichen Großstadt leben. Aber bei einigen empfinde ich den Wesenskern, ihre Hintergründe und ihre Sprache als unverkennbar für Stuttgart. Die Lebensläufe sind deutlich durch unterschiedliche Formen von Arbeitsmigration in der Nachkriegszeit geprägt, die in dieser Stadt bis heute spürbar sind. Meine Familie kennt beide Seiten der Medaille – Verwurzelung und Migration. Für mich ist es am interessantesten, beides zu beschreiben.
Es geht durch den Chor viel um Musik in Ihrem Roman – haben Sie beim Schreiben viele der Chorstücke gehört oder schreiben Sie lieber im Stillen?
Viele dieser Lieder habe ich immer wieder gehört, sie auswendig gelernt und gesungen, um ein Gefühl für sie zu bekommen, für ihre körperliche Wirkung, die ja enorm stark sein kann, wenn man Töne und Worte aus sich herausfeuert. Zum Arbeiten brauche ich allerdings eine musikfreie Umgebung, nicht totenstill, aber einigermaßen ruhig.
Singen Sie selbst gerne?
Ich singe mit Begeisterung, allerdings unbelehrbar falsch und daher nicht im Chor. Meiner Leidenschaft fröne ich nur, wenn ich weiß, dass mir niemand zuhört.

Anna Katharina Hahns Playlist zum Buch
„Der Chor“ gibt es auf Spotify
Aktuelle Lesungen mit der Schriftstellerin:
24.10.2024, Volksbank Hochrhein in
Waldshut-Tiengen 19.30 Uhr
28.10.2024 Stiftskirche  Tübingen 20.00 Uhr
04.11.2024 Salem Linzgau-Buchhandlung 19.30 Uhr
14.11.2024 Galerie für Kunst Schorndorf 19.30 Uhr
Infos und weitere Termine:
www.suhrkamp.de/Anna Katharina Hahn
Das Interview wurde zuerst auf der Website des
Suhrkamp Verlags veröffentlicht, wir drucken einen Auszug ab. Sie können es in voller Länge auf www.suhrkamp.de nachlesen.