Ein Überblick über aktuelle Premieren im Land
Im Theater Heidelberg steht der „Der kaukasische Kreidekreis“ von Bertolt Brecht auf dem Spielplan. Und damit auch wieder ein Klassiker der Theaterliteratur, der nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat. Inmitten eines blutigen Putsches und Bürgerkriegs in Georgien findet die Küchenmagd Grusche ein kleines Kind, das in den Wirren von Flucht und Vertreibung zurückgelassen wurde. Sie nimmt es an sich und flieht mit ihm ins Gebirge, um das Kind zu schützen, da auch Nachkommen und Erben des abgesetzten Gouverneurs bedroht sind. Nach dem Bürgerkrieg erhebt die Gouverneursfrau Anspruch auf das von ihr geborene Kind. Entstanden 1944 und immer wieder aktualisiert und überarbeitet, erzählt Bertolt Brechts große Parabel begleitet von der Musik Paul Dessaus von Mutterschaft und Mutterliebe, aber auch von Gerechtigkeit und Recht, von Krieg und Flucht.
Auch das Schauspiel „Planet B“ am Theater Heidelberg verspricht spannende Theaterunterhaltung. Der Bick der israelischen Regisseurin und Autorin Yael Ronen in die Zukunft ist mehr als skurril: 40 Millionen Jahre, nachdem die Menschheit ausgestorben ist, blicken humanoide Wesen mit archäologischer Neugierde zurück auf das 21. Jahrhundert: Sie rekonstruieren den Showdown des Homo sapiens. Einzelne Vertreter*innen verschiedenster Gattungen traten damals in einer gigantischen Reality-Survival-Show zum Kampf im Massenartensterben an. Die Menschheit wurde durch Boris Baumann repräsentiert, Versicherungsvertreter aus Bremen. Boris hatte es nicht leicht im Kampf gegen Panda, Huhn, Ameise, Fledermaus, Fuchs und Krokodil … Yael Ronen entwickelt regelmäßig analytisch genaue, höchst unterhaltsame Gegenwartsdramatik. In der Regie von Cilli Drexel kommt eine Neuinszenierung mit Live-Band in Heidelberg auf die Bühne (Premiere am 13. Dezember) — ein gleichermaßen berührendes, skurriles und aufrüttelndes Gedankenspiel zum fortschreitenden Klimawandel.
Das Nationaltheater Mannheim feiert mit „Fragment Felix — Ein Leben zwischen Kunst und Krieg“ von Christian Franke unter Verwendung der Schriften Felix Hartlaubs am 6. Dezember seine Uraufführung. Sie ist zugleich Auftakt der Kooperation u.a. mit der Kunsthalle Mannheim anlässlich des großen Mannheimer Kulturthemas „Neue Sachlichkeit“, eine stilbildende Epoche, die 2025 ihr 100jähriges Jubiläum feiert. In „Fragment Felix“ steht das kurze Leben von Felix Hartlaub im Mittelpunkt. Ein Stück Mannheimer Stadtgeschichte, ein Leben zwischen zwei Weltkriegen, dem Führerhauptquartier und der Kunst: Felix’ Vater, der Kunsthallendirektor Gustav Friedrich Hartlaub, eröffnete 1925 die Ausstellung »Die Neue Sachlichkeit«. Diese sollte einer ganzen Kunstepoche ihren Namen geben. Kurz nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten wurde er aus seinem Amt entlassen. Trotzdem empfahl er seinem Sohn, sich mit dem neuen System zu arrangieren. Felix, der schon in seiner Jugend den Wunsch gehegt hatte, Schriftsteller zu werden, arbeitete zunächst als Kriegshistoriker. Er verfasste schließlich im Führerhauptquartier Teile des Kriegstagebuchs des Oberkommandos der Wehrmacht. Seine Spuren verlieren sich kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs in den Wirren der Kämpfe um Berlin. „Fragment Felix“ greift ausgewählte Lebensstationen von Felix Hartlaub auf, die sein Verhältnis zum Vater, seine eigene künstlerische Entwicklung als Schriftsteller und seine Rolle im Nationalsozialismus zeigen. So werden in den Räumen der Kunsthalle Mannheim nicht nur ein Stück Stadtgeschichte, deutsche Geschichte und Kunstgeschichte wieder lebendig, sondern auch das Schicksal der Familie Hartlaub.
Das Schauspiel Stuttgart bringt mit „Draußen vor der Tür“ von Wolfgang Borchert einen modernen Klassiker auf die Bühne (Premiere am 1. November 2024). Viele könnten das Stück noch aus ihrer Schulzeit kennen, denn es immer wieder Lektüre im Deutschunterricht. Borchert erzählt darin vom Schicksal des jungen Beckmann, stellvertretend für eine ganze Generation, was „Heimkehren“ für Soldaten aus dem 2. Weltkrieg bedeutet. Wie kann man als Soldat nach all den Greul weiterleben? Wie geht die Familie damit um? Zu Hause ging das Leben weiter – nur eben ohne ihn. Seine Frau hat jetzt einen anderen, der ihr das Bett wärmt. Seine Eltern sind tot. Was also bleibt so einem noch, den keiner mehr will? Ein Selbstmordversuch in der Elbe misslingt, denn da ist plötzlich noch „der Andere“, der ihm von nun an nicht mehr von der Seite weichen wird und aufpasst, dass er sein Leben nicht mehr so schnell wegwirft. „Draußen vor der Tür“ ist ein sprachliches und poetisches Meisterwerk, das bei der Uraufführung 1947 als „Aufschrei einer ganzen Generation“ verstanden wurde. Der Autor war achtzehn Jahre, als der Krieg ausbrach, und vierundzwanzig, als er zu Ende war. Zwei Jahre blieben ihm noch, um gegen die Lügen, das falsche Pathos und Heroismus anzuschreiben, bevor er mit nur sechsundzwanzig Jahren an den Folgen des Krieges starb.
In dem Stück mit dem ungewöhnlichen Titel „James Brown trug Lockenwickler“ von Yasmina Reza am Theater Ulm (ab Oktober) versucht ein Ehepaar ihren halbwüchsigen Sohn mittels Therapie von seiner Identitätskrise zu befreien. Nachdem er mit fünf Jahren zum ersten Mal einen Song des kanadischen Superstars Céline Dion im Radio hörte, ist Jacob nun davon überzeugt, selbst die erfolgreiche Sängerin zu sein. Im Therapiezentrum findet er einen Freund, den weißen Jungen Philippe, der meint, schwarz zu sein. Die beiden Teenager akzeptieren sich gegenseitig in ihren gewählten Identitäten. Die Eltern schwanken zwischen Akzeptanz und Hilflosigkeit, schließlich geht es um den Erhalt ihres eigenen Weltbilds. Das Stück der für Gesellschaftskomödien bekannten Autorin handelt von Identität oder Individualität — je nachdem, wo man steht. Komisch und traurig zugleich, wie immer bei Yasmina Reza.
Die Badische Landesbühne in Bruchsal feiert in dieser Spielzeit 100-jähriges Jubiläum. Dafür hat sie u.a. das Stück „Die Affäre Rue de Lourcine“ von Eugène Labiche ausgewählt. Ein feuchtfröhliches Klassentreffen beschert zwei alten Schulfreunden einen gewaltigen Filmriss. Die Morgenzeitung füllt die Gedächtnislücke: In der Rue de Lourcine wurde letzte Nacht ein Mord begangen. Sind sie die Täterinnen? Die im wahrsten Sinne des Wortes „berauschende“ Komödie feiert Premiere in der Übersetzung von Elfriede Jelinek am 23. November 2024.
Apropos Elfriede Jelinek: Am Theater Konstanz feiert am 7. Dezember das Stück „Angabe der Person“ Premiere. Ein mittlerweile eingestelltes steuerliches Ermittlungsverfahren wurde für die Dramatikerin zum Anlass, auf ihre „Lebenslaufbahn“ zurückzublicken. Sie verwebt ihren eigenen persönlichen „Steuerfall” und ihre kraftvolle Empörung darüber mit den Absurditäten der Vergangenheit und Gegenwart. Jelinek erzählt von Flucht und Verfolgung ihrer zum Teil jüdischen Familie, von alten und neuen Nazis. Ihr Nachdenken führt aber auch zum Nachvollziehen globaler Finanzströme: von Steuersparmodellen oder handfesten Betrugsskandalen, von Cum-Ex-Geschäften bis zu Wirecard.
Im Theater Baden-Baden ist ab 26. Oktober Kästners Klassiker „Drei Männer im Schnee“ zu erleben: eine Verwechslungsgeschichte mit vielen Irrungen und Wirrungen rund um den Milliardär Tobler. Dieser liebt die einfachen Dinge. Dafür mietet er sich in einem Luxushotel in den Bergen ein, jedoch als „einfacher Mann“ unter falschem Namen. Weitere Männer im Schnee: ein kreativer und arbeitsloser junger Mann, der für einen Millionär gehalten wird und ein Diener, der einen Millionär spielen soll, aber um keinen Preis einer sein will. Erich Kästner veröffentlichte das Motiv der Geschichte zuerst als tragische Erzählung unter dem Titel „Inferno“ 1927. 1934 arbeitete er den Stoff zu dem heiteren Roman und später auch zum Theaterstück um. Spätestens seit der Verfilmung 1955 ist „Drei Männer im Schnee“ eines seiner beliebtesten Werke.
Die Württembergische Landesbühne Esslingen widmet sich ab Oktober mit dem Stück „Die Grube“ von Ingrid Bachér einem ernsten Thema mit politischer Brisanz: Über 20 Jahre schrieb die Autorin an ihrem 2009 veröffentlichten Roman über das Schicksal der Menschen im Braunkohletagebau-Revier. Nicht erst seit den Protesten in Lützerath 2023 ist ihre Geschichte hochaktuell und brisant. Das Schauspiel zeigt anhand von Einzelschicksalen, was es heißt, wenn zigtausende Menschen ihre Heimat verlieren. Dabei beleuchtet es auch die Rolle der mächtigen Konzerne und der ihnen dienenden Politik, vom Widerstand im Kleinen und der Ergebung im Großen.
Das Alte Schauspielhaus in Stuttgart präsentiert mit „Seemannsgarn“ ein neues Singspiel. In „Die Comedian Harmonists“ feierte das Ensemble bestehend aus fünf jungen Sängern und ihrem Pianisten bereits einen Riesenerfolg am Haus, nun kehren sie mit dieser Uraufführung, die eigens für sie konzipiert wurde (ab 6. Dezember) nach Stuttgart zurück. Die Szenerie: Heiligabend in der „Hafenklause“, einer kleinen Kneipe beim Hamburger Fischmarkt. Jedes Jahr zu Weihnachten hält Wirtin Maria hier einen Seemannslieder-Wettbewerb ab. Es erklingen Lieder wie „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“ über „La Paloma“ bis zum „Wellerman“ – arrangiert und vorgetragen im unvergleichlichen Stil der Comedian Harmonists. Ergänzt wird das Sextett durch die Sängerin, Musikerin und Entertainerin Antje Rietz, die ebenfalls bereits als Hildegard Knef und Marlene Dietrich am Alten Schauspielhaus für Furore gesorgt hatte. Gemeinsam mit der Stuttgarterin Birgit Reutter komplettiert sie den Abend.
Das Landestheater Tübingen schaut mit „Wonderland Ave“ in eine Zukunft, die längst nicht mehr nur Fiktion zu sein scheint. Die Science-Fiction Komödie von Sibylle Berg „Wonderland Avenue“ ist ein Ort – irgendwo zwischen Gefängnis, Wellnesshotel und Freizeitanlage – in der Zukunft. Dort haben Maschinen und KI die Macht übernommen. Das Leben der Menschen wird vollbetreut und automatenüberwacht und penibel vorgeschrieben. Lediglich untereinander können die Menschen sich noch beweisen – wobei die Verlierer ihrem Abtransport und einer ungewissen Zukunft entgegenblicken. Sibylle Berg erzählt mit „Wonderland Ave.“ einen heiter-melancholischen Abgesang auf die Lebens- und Arbeitswelt wie wir sie kennen und von den Gefahren einer entfesselten KI. Doch sie kann auch beruhigen: Die Erde wird sich auch ohne unsere Spezies weiterdrehen und vielleicht sogar erleichtert aufatmen (Premiere 30. November 2024).
Kurz vor der Wende zum 17. Jahrhundert schrieb William Shakespeare mit „Viel Lärm um nichts“ eine seiner schönsten und populärsten Komödien. In dieser Spielzeit zu erleben, in einer Inszenierung des Theater Pforzheim (Premiere am 25. Oktober 2024). Was sich liebt, das neckt sich? Demnach müssten Beatrice und Benedikt das größte Liebespaar in ganz Messina sein. Denn die beiden überzeugten Singles lassen kein gutes Haar aneinander und beteuern in ihren spitzzüngigen Wortgefechten immer wieder, wie wenig sie voneinander, von der Ehe und überhaupt vom anderen Geschlecht halten. Mit Liebesschwüren haben dagegen Benedikts junger Kumpan Claudio und Hero, die Tochter des Gouverneurs, keine Probleme. Kaum haben sich die beiden gefunden, wird auch schon die Hochzeit geplant. Liebe, Intrigen, Eifersucht, Gerüchte und Täuschung sind in diesem Stück herrlich miteinander verbunden und mit dem wortreich streitenden Duo Beatrice und Benedikt schuf Shakespeare ikonische Charaktere, die bis heute Vorbild für das Genre sind.
Und noch einmal Shakespeare – Im Badischen Staatstheater in Karlsruhe siedelt Ariane Koch „Der Sturm“ (Premiere 13. Dezember 2024) in einer weiblich dominierten Gesellschaft an. Das Eigene und das Fremde, Zivilisierung und Repression, Freiheit und Versklavung, Macht und ihr Missbrauch: Shakespeares letztes Theaterstück versammelt in sich zentrale Themen der Gegenwart. Vor allem aber entwirft es eine faszinierende Welt an der Grenze zwischen Traum und Realität. Ariane Koch ist bekannt für ungewöhnliche Settings – sie schreibt Theaterstücke und Prosa und erhielt u.a. für ihren Roman „Die Aufdrängung“ 2021 den aspekte-Literaturpreis.
„Peer, du lügst!“: Mit diesem ersten Satz seines 1876 uraufgeführten „dramatischen Gedichts“ gibt Henrik Ibsen bereits das zentrale Thema seines Werkes vor: ausgesprochen von seiner Mutter Aase. Und Peer antwortet: „Das tu ich nicht!“ Tut er doch. Und so charmant dieser anfangs noch jugendliche Aufschneider Peer Gynt zunächst erscheinen mag, so sehr entpuppt er sich doch im Laufe dieses epischen Dramas und seines darin geschilderten Lebensweges immer wieder und immer mehr als ungehemmter Egoist und Narzisst. Henrik Ibsens überbordendes Werk, in dem sich höchst persönliche Ängste und Erfahrungen mit norwegischen Märchen und Mythen sowie den realen Weltläufen im 19. Jahrhundert mischen, wird der israelische Regisseur Yair Sherman mit seinem Team auf die Bühne des Theater Freiburg mit großen Bildern und verführerischem Theaterzauber bringen. Ibsens Studie über einen Narzissten, der durch seine skrupellose Selbstverwirklichung möglicherweise das Lebensglück verpasst, inszeniert Yair Sherman gleich mit einem Dutzend „Peers“, die sich in diesem Ensemblestück ablösen: Frei nach dem Motto: Steckt nicht in uns allen ein „Peer Gynt“?