Kafka in Marbach

Franz Kafkas Brief an den Vater, den er 1919 in Schelesen bei Prag verfasste, gilt heute als eines der bedeutendsten Werke der modernen Weltliteratur. Nun hat er eine neue Heimat im Literaturarchiv Marbach gefunden. Möglich war dies Dank der großzügigen Unterstützung der Kulturstiftung der Länder, des Landes Baden-Württemberg durch die Baden-Württemberg Stiftung, der Adolf Würth GmbH und Co KG, der Berthold Leibinger Stiftung, der Wüstenrot Stiftung sowie von Klaus Mangold. Das berühmte Manuskript konnte jetzt, vermittelt durch den Antiquar Jörn Günther, vom Verleger Thomas Ganske erworben werden. Ganske war seit 1983 im Besitz des Manuskripts, das 100 Seiten im Oktav-Format umfasst und sehr gut erhalten ist.

Brief an den Vater von Franz Kafka, November 1919, Foto: DLA Marbach
Der Brief, in dem sich die Grenzen zwischen Literatur und Realität auf komplexe Weise verwischen, wurde nie abgeschickt und erreichte seinen Vater daher nicht. Erst 1952, lange nach dem Tod beider, erschien er in der Literaturzeitschrift Neue Rundschau und erlangte große Anerkennung als literarisches Meisterwerk und Schlüssel zum Verständnis von Kafkas Leben und Werk.

Friedrich Feigl: Kafka liest den »Kübelreiter«. Tuschzeichnung, London Mai 1946. Foto: DLA Marbach.

Ausgelöst durch einen Konflikt mit seinem Vater über seine geplante Ehe mit der Sekretärin Julie Wohryzek, reflektiert Kafka in diesem Brief die Beziehung zu seinem Vater, die er stets als erdrückend und übermächtig empfand. Mit der Präzision eines Anwalts präsentiert er Anschuldigung über Anschuldigung und offenbart dabei immer tiefere seelische Abgründe. Ob das Porträt des Vaters auf dessen wahrem Charakter basiert, bleibt umstritten. Schon in seiner 1913 publizierten Novelle „Das Urteil“ thematisierte Kafka die Auseinandersetzung zwischen Sohn und Vater. Es wird vermutet, dass dieses mythische Motiv der Vater-Sohn-Konfrontation Kafka besonders faszinierte, da es exemplarisch sein Lebensthema der Abhängigkeit widerspiegelte, das auch seine Romane „Der Process“ und „Das Schloss“ prägt.
Das Deutsche Literaturarchiv besitzt, neben dem eigentlichen Nachlass in Oxford, die größte Sammlung von Kafka-Autographen weltweit, darunter die Handschrift des Romans „Der Process“ sowie zahlreiche weitere Manuskripte und Briefe, unter anderem an seine Schwester Ottla und Milena Jesenská. Der Brief an den Vater ist derzeit in der Ausstellung „Kafkas Echo“ im Marbacher Literaturmuseum der Moderne zu sehen, die aufgrund des großen Interesses bis zum 22. Juni 2025 verlängert wurde.

Blick in die Ausstellung, Foto: Jens Tremmel

Die Ausstellung „Kafkas Echo“ beleuchtet nicht nur den Brief an den Vater, sondern auch andere Werke und Dokumente des Autors, die seine komplexe Beziehung zu seiner Familie und seine literarische Entwicklung widerspiegeln. Besucher der Ausstellung haben die Möglichkeit, in die Gedankenwelt von Kafka einzutauchen und seine Werke im Kontext seiner persönlichen Erfahrungen und historischen Gegebenheiten zu betrachten.